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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0329
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Überblickskommentar, Kapitel 11.6: Selbstaussagen Nietzsches 303

Autors, der sich im Vorwort zu UBII HL zwar selbst „als ein Kind dieser jetzi-
gen Zeit“ bezeichnet (247, 5), sich zugleich aber auch dezidiert als „unzeitge-
mäss“ in Szene setzt (247, 9) und avantgardistische Zukunftshoffnungen an-
deutet (247, 10-11), um UB IV WB aus der späten Retrospektive von Ecce homo
schließlich sogar als „eine Vision meiner Zukunft“ auszugeben (KSA 6, 320,
10). - Vor diesem Hintergrund denken auch spätere Rezipienten von UB II HL
über das Spannungsfeld von Zeitgemäßheit und Unzeitgemäßheit nach. So
überlegt Martin Heidegger, „inwiefern Nietzsches Philosophie im Ganzen un-
zeitgemäß“ ist und „inwiefern vielleicht allzu zeitgemäß“ (Heidegger, Bd. 46,
2003,105). Und Heinrich von Treitschke stellt N.s Unzeitgemäßheit insofern in
Abrede, als er „bis ins Mark angefressen“ sei vom „zeitgemäßesten aller Laster,
dem Größenwahn“ (zitiert nach Hauke Reich 2013, 456). Vgl. dazu auch die
Problematisierungen in Kapitel II.9 des Überblickskommentars.
Die Elogen von Carl von Gersdorff, der das Druckmanuskript angefertigt,
den Text auf Druckfehler hin geprüft und nach der Publikation mit uneinge-
schränkter Bewunderung auf UB II HL reagiert hatte, beantwortete N. am 1. Ap-
ril 1874 in einem Brief mit ausgeprägter Skepsis: „Lieber getreuer Freund,
wenn Du nur nicht eine viel zu gute Meinung von mir hättest! Ich glaube fast,
dass Du Dich einmal über mich etwas enttäuschen wirst; und will selbst anfan-
gen dies zu thun, damit dass ich Dir, aus meiner besten Selbsterkenntniss he-
raus erkläre, dass ich von Deinen Lobsprüchen nichts verdiene. Könntest
Du wissen, wie verzagt und melancholisch ich im Grunde von mir selbst, als
producirendem Wesen, denke! Ich suche weiter nichts als etwas Freiheit, etwas
wirkliche Luft des Lebens und wehre mich, empöre mich gegen das viele, un-
säglich viele Unfreie, was mir anhaftet“ (KSB 4, Nr. 356, S. 214). - Salaquarda
betont in diesem Zusammenhang, N. habe Erwin Rohde offenbar mehr Kompe-
tenz zugetraut als Carl von Gersdorff, der „zu dieser Zeit die Rolle des Schrei-
bers und Akklamateurs“ spielte (Salaquarda 1984, 13). Erwin Rohde hatte den
Entstehungsprozess von UB II HL auch mit kritischen Korrekturvorschlägen be-
gleitet und kurz nach der Publikation der Schrift am 24. März 1874 in einem
langen Brief an N. sowohl stilistische Defizite als auch Inkonsistenzen in der
Gedankenführung moniert (vgl. dazu KGB II4, Nr. 525, S. 420-423 und Kapitel
II.5 in diesem Überblickskommentar).
Aus der Weiterführung der selbstkritischen Reflexion in dem oben zitierten
Brief vom 1. April 1874 erhellt, dass sich N. - zumindest gemäß seiner damals
aktuellen Stimmungslage - beim Verfassen der beiden ersten Unzeitgemässen
Betrachtungen noch im Vorfeld dessen sieht, was er intellektuell zu leisten be-
absichtigt. Denn er fährt fort: „Von einem wirklichen Produciren kann aber gar
nicht geredet werden, so lange man noch so wenig aus der Unfreiheit, aus dem
Leiden und Lastgefühl des Befangenseins heraus ist: werde ich’s je erreichen?
 
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