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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0365
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 339

von traditionelleren Formen des Philosophierens präformiert waren. [Die
Aufzeichnungen Scheiers zu „Nietzsche 1844-1900“ im Nachlass-Dokument
B.I.189, 106-109 am Ende seiner Vorlesung „Geschichte der Philosophie im
19. Jahrhundert“ wurden (mit einigen Lesefehlern) bereits publiziert in: Scheier:
Gesammelte Werke, Bd. 15, 1997, 138-140.]
Obwohl er in dieser Vorlesungsnotiz von 1920 einen gravierenden Vorbe-
halt gegenüber N.s Philosophie äußert, war das philosophische Selbstverständ-
nis Scheiers, der sich auch als heroischer Dionysiker verstand, nachhaltig von
N. geprägt. In den Aufzeichnungen, mit denen Scheier seinen Vortrag zur Feier
von N.s Geburtstag im Oktober 1927 vorbereiten wollte, hat er den kritischen
Impuls dann längst wieder revidiert. Im Nachlass-Dokument „B.I.25: Diverses
zur Anthropologie, 19-20 (1927)“ würdigt Scheier in der fragmentarischen
„[Einleitung des Nietzsche-Vortrags]“ die „Größe“ und die „unermeßlich“ er-
scheinende „Fülle“ der „Gedanken über das Leben des Menschen [...], die sich
in Fr. Nietzsche zum Teil zuerst manifestirten und die er zum Teil selbst gestal-
tend hervor rief“ (B.I.25). Und nachdem er N. als „einzigartigen Wort- und
Sprachpräger“, als „erhabenen Dichterphilosophen“ sowie als „unerhört spür-
sinnigen“ Psychologen exponiert hat, der „nicht einfach Philosoph war im
klassischen Sinne“, betont Scheier die „Einheit eines großen Problems“, das
N. existentiell durchdacht habe und aus dem auch „all seine Geschichts-
erk[enntnis], all seine Psychologie, all seine Kritik der Kulturformen“ ent-
springt (B.I.25). Der unkonventionelle philosophische Gestus N.s, den Scheier
1920 noch als Defizit betrachtet hatte, avanciert nun zum Fundament seiner
Singularität. Wenige Monate vor Scheiers Tod dokumentieren diese Vortrags-
notizen den letzten Stand seiner N.-Rezeption.
Thomas Mann würdigt UBII HL im Kontext der Unzeitgemässen Betrach-
tungen, wenn er 1947 in seinem Essay Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer
Erfahrung erklärt, N. sei „vor allem ein großer Kritiker und Kultur-Philosoph“
gewesen, der seine spätere „Lehrbotschaft“ auch in den Unzeitgemässen Be-
trachtungen „bereits vollkommen und fertig“ zum Ausdruck gebracht habe
(Thomas Mann 1990, Bd. IX, 682, 685). Thomas Manns Einschätzung zufolge
ist in UB II HL N.s „Grundgedanke [...] am vollkommensten, wenn auch noch
in einer speziellen kritischen Einkleidung, präformiert“ (ebd., 688): „Die be-
wundernswerte Abhandlung ist im Grunde nur eine große Variation des Ham-
let-Wortes von der ,angebornen Farbe der Entschließung4, die von ,des Gedan-
kens Blässe angekränkelt4 wird“ (ebd., 688). Angesichts von N.s Diagnose „der
historischen Krankheit4, die das Leben und seine Spontaneität zum Erlahmen
bringe“, hält Thomas Mann den Titel der Schrift insofern für „inkorrekt, als
von dem Nutzen der Historie kaum [...] die Rede ist“ (ebd., 688). Und er stellt
fest: „Historie müßte als Kunstwerk traktiert werden, um kulturschöpferisch
 
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