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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0369
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 343

flektiert auch Musil eingehend über die Heterogenität geistiger Impulse in der
Moderne; dabei weist er selbst sogar mehrfach auf N. hin (vgl. Musil 1978, Bd.
II, 1049, 1355, 1376,1379,1393), etwa indem er auf eine „Ordnung der Gefühle“
rekurriert, eine „Wohlgefügtheit des seelischen Lebens - wie es Nietzsche zu-
weilen verlangt hat“ (ebd., 1379). Und wenn Musil außerdem den „Heroenkult
Nietzsches“ hervorhebt (ebd., 1376), dann steht zugleich auch N.s Charakteri-
sierung der ,monumentalischen Historie4 implizit mit im Blick.
Besonders auffällig erscheinen die Affinitäten bei der Vorstellung einer
anthropologischen Elastizität4. Schon N. betont in UB II HL „die plastische
Kraft des Lebens“ (329, 25) und setzt „die plastische Kraft eines Menschen,
eines Volkes, einer Cultur“ (251, 4-5) für Wachstum und für die Assimilation
und Transformation fremder Einflüsse voraus. Ein halbes Jahrhundert später
veranschaulicht Musil seine anthropologischen Konzepte ebenfalls durch den
Begriff des Elastischen4: Musil verwendet ihn in seinem ,Theorem der Gestalt-
losigkeit4, das er in der Zeit von 1921 bis 1923 in mehreren essayistischen Texten
entfaltet, und zwar in den Essays Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (Mu-
sil 1978, Bd. II, 1059-1075) und Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten
ins Tausendste (ebd., 1075-1094) sowie im Fragment Der deutsche Mensch als
Symptom (ebd., 1353-1400). In diesen Texten beschreibt Musil den Menschen
in unterschiedlichen soziokulturellen Zusammenhängen als etwas nahezu „Ge-
staltloses, unerwartet Plastisches, zu allem Fähiges“ (ebd., 1072), sogar als
„eine liquide Masse, die geformt werden muß“ (ebd., 1348), und als „eine über-
raschend viel bildsamere Masse“ als erwartet (ebd., 1080). Seiner Ansicht nach
ist dieses „Wesen [...] ebensoleicht fähig der Menschenfresserei wie der Kritik
der reinen Vernunft“ (ebd., 1081). In diesem Kontext illustriert Musil die prä-
gende Wirkung des sozialen Umfeldes mithilfe von Beispielen, die Epochen-
grenzen von der Antike zur Moderne imaginär überspringen: „Es gehört gar
nicht so viel dazu, um aus dem [...] antiken Griechen den modernen Zivilisa-
tionsmenschen zu machen“ (ebd., 1081). Zu diesem anthropologischen Kon-
zept vgl. Neymeyr 2009c, 129-169.
Schon der historische Hiat in dieser These Musils lässt an N.s kritische
Überlegung in UB II HL denken, dass sich die mit „fremden Zeiten“ und Kultu-
ren überfüllten Menschen seiner Gegenwart „zu wandelnden Encyclopädien“
entwickeln, „als welche uns vielleicht ein in unsere Zeit verschlagener Alt-
Hellene ansprechen würde“ (274, 1-5). Denn bereits N. überschreitet die Epo-
chengrenzen, indem er in UB II HL antikes und modernes Epigonentum paral-
lelisiert (vgl. 333, 6-26) und durch die phantasierte Zeitreise eine humoristische
Pointe setzt. Zudem weisen Musils anthropologische Konzepte von 1922/23, de-
nen zufolge das ,Wesen4 des Menschen als ungestaltet, plastisch, labil, liquide,
gestaltlos, bildsam und formbar erscheint (vgl. Musil 1978, Bd. II, 1072, 1080,
 
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