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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0380
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354 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Magen“ als Beschreibung einer problematischen Reizüberflutung durch das
mental nicht zu bewältigende Übermaß historischer Ereignisse und zivilisatori-
scher Dokumente, um dann sein eigenes Fazit zu formulieren: „Wie rettet sich
das Leben vor seiner Entartung zu Geschichte? Durch die Flucht in den My-
thos“ (Lessing 1919, 4. Auflage 1927, 274-275).
Bezeichnenderweise hat Lessing im Untertitel dieser Monographie Ge-
schichte als Sinngebung des Sinnlosen. Oder die Geburt der Geschichte aus dem
Mythos eine markante Strukturanalogie zu N.s Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik konstruiert. Zugleich schließt er in diesem Buch an Vorstellun-
gen aus dessen Historienschrift an. Wenn N. der ,monumentalischen Historie4
das Potential zuschreibt, mithilfe täuschender Analogien lebensfördernde Sug-
gestionen zu erzeugen (vgl. 262, 29-30), dann distanziert er sich damit so weit-
gehend vom Postulat historischer Objektivität, dass er sogar zur Gegenposition
einer strategischen Funktionalisierung der Geschichte tendiert. Zwar sieht N.
auch mögliche Gefahren, wenn eine erdichtete ,monumentalische Historie4 die
Grenze zur „mythischen Fiction“ überschreitet (262, 17). Aber dennoch bleibt
das vitalistische Telos seines Geschichtskonzepts in UB II HL dominant. Vgl.
dazu die symptomatischen Belegstellen in UB II HL 6-7 (290-296) und die kriti-
sche Argumentation im folgenden Kapitel II.9 (Abschnitt 5: Historische Faktizi-
tät oder strategische Geschichtskonstruktion: Die problematische Fiktionalisie-
rung der Geschichte).
Noch markanter als im Buch Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen von
1919 prägt sich Theodor Lessings vitalistischer Denkimpuls bereits 1906 in sei-
nem Werk Schopenhauer, Wagner, Nietzsche aus. Denn hier plädiert er mit ein-
facher Syntax und Antagonismen von suggestiver Schlichtheit entschieden für
einen vor allem von N. inspirierten Antirationalismus: „Wir wollen keinen
Geist, kein Denken und Erkennen. Wir ,wollen4 Gefühle. Wenn alle Kultur
zum Lichte, zum Intellekte drängt, dann giebt es eben in uns auch Gegen-
kultur! Und diese Gegenkultur ist antiintellektuell!“ (Lessing 1906, 328). Für
diese Zielsetzung versucht er Nietzsche als prototypische Figur zu vereinnah-
men: „Auf welche Seite aber Nietzsche zu stellen ist, kann uns fürder nicht
zweifelhaft sein. Er ist Heros der Gegen kultur! Jener Wärme kultur, wel-
che die Retar dation der Aufklärung zu verwalten hat!“ (ebd., 329). - Die-
ses emphatische Pathos Lessings lässt übrigens zugleich an vitalistische Ten-
denzen im CEuvre Gottfried Benns denken, der eine Figur seiner dramatischen
Szene Ithaka unter dem Einfluss von N.s Tragödienschrift ausrufen lässt: „Wir
wollen den Traum. Wir wollen den Rausch. Wir rufen Dionysos und Ithaka!“
(Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Bd. 7, 9). Als symptomatisch für die irratio-
nalistische Phase Benns erscheint hier auch das markante Diktum: „Das Ge-
hirn ist ein Irrweg. Ein Bluff für den Mittelstand“ (ebd., 13). Zum Spannungs-
 
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