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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0390
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364 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

zählen von Dingen, die nie existirt haben, äusser in der Vorstellung“ (KSA 3,
225, 1-7). Explizit bringt Heidegger diese Textpassage der Morgenröthe dann in
Abschnitt 45 seiner Aufzeichnungen ins Spiel, indem er aus ihr zitiert (Heideg-
ger, 2003, 100). Anschließend reflektiert er in Abschnitt 46 sogar über eine ex-
perimentelle Dimension der Geschichte, indem er sie als „Versuchsanstalt des
Lebens“ beschreibt, „in der die höchsten Exemplare glücken und vieles miß-
glückt“, und zwar in einem ständigen „Kampf um die Steigerung der Macht“
(ebd., 100). N.s Gegenüberstellung von Leben und Historie in UB II HL transfor-
miert Heidegger hier in einen Wirkungszusammenhang, indem er gewisserma-
ßen eine Experimental-Historie des Lebens imaginiert.
Das „Wesen der antiquarischen Historie und ihr[en] Nutzen“ charakteri-
siert Heidegger durch ein „Zurückblicken in das Woher der Herkunft“; und die-
se Perspektive assoziiert er mit der Möglichkeit eines „Sichwiederfinden[s] im
Vergangenen“ als „dort schon gegeben und vollendet“ (Heidegger 2003, 77).
Allerdings deutet er zugleich eine problematische regressive Tendenz an, wenn
er eine solche Selbstfindung mithilfe der antiquarischen Historie, die eine
„Preisgabe an das wurzellose Neue“ verhüten soll, durch die Formulierung er-
läutert: „sich dahin loslassen und verkriechen“ (ebd., 77). In dieser Hinsicht
ist zugleich eine Affinität zum Verhalten der „schwachen [...] Naturen“ ange-
sichts der monumentalischen Historie festzustellen, denn sie „flüchten sich an
ein großes gewesenes Vorbild“, um unter Berufung darauf „alles Werdende und
Wollende zu verneinen“ (ebd., 74). Als kontraproduktiv erweist sich diese Men-
talität, wenn sie „statt Erwirkung des Großen die Verhinderung seiner Entste-
hung“ zur Folge hat (ebd., 74).
In einem inneren Zusammenhang mit der ,monumentalischen Historie4
sieht Heidegger in UB II HL die ,kritische Historie4, die er für „die gefährlichste
Art von Historie“ und zugleich auch für „die wesentlichste“ hält, weil sie „jene
ist, in der Nietzsche selbst vorwiegend kämpft und später immer mehr kämpfen
mußte (,Nihilismus4)“ (ebd., 79). Zwar charakterisiert Heidegger die ,kritische
Historie4 einleitend als „in Bezug auf die Vergangenheit [...] richtend, vernei-
nend!“ (ebd., 78). Aber er mildert den negativen Bedeutungsvaleur im Hinblick
auf die Etymologie, indem er „das Wesen des Richtenden (der Kritik)“ relativie-
rend auslegt: Solche Kritik sei - „wie das alte Kpiveiv - nicht negativ nur, son-
dern zuerst und eigentlich Maß und Rang setzend“ (ebd., 142). Die etymologi-
sche Bezugnahme auf das altgriechische „Kpiveiv“ zeigt, dass sich Heidegger
hier am antiken Kritik-Begriff orientiert, der auch die positiven Aspekte von
,Kritik4 im Sinne von Unterscheiden und Beurteilen mitberücksichtigt (vgl.
dazu den philosophiehistorisch differenzierenden Artikel von Bormann, Tonel-
li, Holzhey 1976, Sp. 1249-1282).
Ausgehend von dieser Wertungsprämisse, begründet Heidegger den Pri-
mat der ,kritischen Historie4 in N.s UB II HL und charakterisiert sie zugleich
 
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