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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0418
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392 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

ler Identität beträchtlich verfälscht: Gesellschaftssysteme, die vermeintlich he-
roische4 Phasen ihrer nationalen Vergangenheit auf Kosten problematischer
Erfahrungen verabsolutieren, laufen Gefahr, durch Strategien einer selektiven
,Erinnerungspolitik4 das Geschichtsbild zugunsten nationaler Interessen zu
verzerren.
Deshalb empfiehlt es sich, die einseitigen Perspektiven einer ,monumenta-
lischen Historie4 durch Horizonterweiterung und ausgewogene Urteilsbildung
zu verhindern - im Bemühen um differenzierte Erfassung und objektivierende
Darstellung geschichtlicher Prozesse. Auf diese Weise gilt es, auch einer „histo-
rischen Amnesie44 oder „einer perversen ,monumentalen Art444 der Geschichts-
betrachtung vorzubeugen, wie sie etwa angesichts der jüngeren deutschen Ver-
gangenheit konstatiert wurde: nämlich im Hinblick auf den Umgang mit dem
Nationalsozialismus (vgl. Le Rider 2001, 106). Ein problematisches Geschichts-
bild entsteht jedenfalls dann, wenn bestimmte Bereiche kollektiver Erinnerung
gedankenlos eskamotiert werden oder wenn die gezielte Selektion von Aspek-
ten des Monumentalen zur Verfälschung der Vergangenheit führt. Dies trifft
auch auf die fiktionalisierende Überformung der historischen Fakten zu, die N.
in UBII HL ausdrücklich befürwortet.
Um das Spannungsfeld von subjektiver Erinnerung, kollektivem Gedächt-
nis und Geschichtswissenschaft für die spezifischen Herausforderungen der
Moderne fruchtbar zu machen, bedarf es mithin einer Erinnerungskultur, die
das kollektive Gedächtnis nicht einseitig ,monumentalisch4 auf siegreiche
Perioden und sogenannte ,Blütezeiten4 der nationalen Vergangenheit fixiert,
sondern im Bemühen um ausgewogene Geschichtsbetrachtung auch den Er-
fahrungen von Trauma, Schuld und Trauer einen angemessenen Platz im kul-
turellen Gedächtnis bewahrt, um verantwortungsbewusst Wege in die Zukunft
zu bahnen: durch Einsatz für Völkerverständigung, Friedenssicherung und in-
ternationale Kooperation.
Betrachtet man die von N. in UB II HL vorausgesetzte Notwendigkeit le-
bensermöglichender Illusion und den von ihm behaupteten Primat strategi-
scher Fiktion vor historischer Faktizität im Rahmen seines Frühwerks, so fallen
Zusammenhänge mit dem Vitalismus in der Geburt der Tragödie auf: Schon
dort propagiert er eine ästhetische Transformation geschichtlicher Gegebenhei-
ten zum Zweck lebensermöglichender Illusion (vgl. KSA 1, 56,16-22). Von einer
spezifischen Ästhetik des Tragischen im „Vernichtungstreiben der sogenannten
Weltgeschichte“ ausgehend (KSA 1, 56, 18-19), präferiert N. künstlerisch-krea-
tive Überformungen dann auch in der Historiographie. Zu dieser in UB II HL
festzustellenden Tendenz trägt N.s kritischer Blick auf Einseitigkeiten einer
positivistisch orientierten Wissenschaftskultur in seiner Zeit bei, gegen deren
enge Grenzen und rigide Methodik er rebelliert.
 
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