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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0436
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410 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

nicht bewußt, gleichsam eine einzige Gegenwart ist, - hinausgeht, aber doch
nicht so unberechenbar weit, wie man wohl anzunehmen pflegt“ (PPII,
Kap. 22, § 271, Hü 530). Diese Einschätzung begründet er damit, dass nur weni-
ge Menschen über „das Problem des Daseyns“zu reflektieren vermögen,
ja dass die meisten sich dessen nicht einmal bewusst sind, sondern gedanken-
los „dahinleben, nur auf den heutigen Tag und die fast nicht längere Spanne
ihrer persönlichen Zukunft bedacht, indem sie jenes Problem entweder aus-
drücklich ablehnen, oder hinsichtlich desselben sich bereitwillig abfinden las-
sen mit irgend einem Systeme der Volksmetaphysik und damit ausreichen“
(PP II, Kap. 22, § 271, Hü 530). Durch diese Konstellation sieht sich Schopen-
hauer dazu veranlasst, den Sonderstatus des Menschen als ,animal rationale4
zu relativieren, und gelangt dann zu der Quintessenz: „wenn man, sage ich,
Das wohl erwägt; so kann man der Meinung werden, daß der Mensch doch nur
sehr im weitern Sinne ein denkendes Wesen heiße, und wird fortan über
keinen Zug von Gedankenlosigkeit, oder Einfalt, sich sonderlich wundern“
(PP II, Kap. 22, § 271, Hü 530).
Im Unterschied zu N. bringt Schopenhauer den von ihm imaginierten Son-
derfall eines Volkes, das eine unhistorische Existenz führt, mit der spezifisch
animalischen Beschränktheit des Bewusstseins in Verbindung: „Dem nun ana-
log ist ein Volk, das seine eigene Geschichte nicht kennt, auf die Gegenwart
der jetzt lebenden Generation beschränkt: daher versteht es sich selbst und
seine eigene Gegenwart nicht; weil es sie nicht auf eine Vergangenheit zu be-
ziehn und aus dieser zu erklären vermag; noch weniger kann es die Zukunft
anticipiren. Erst durch die Geschichte wird ein Volk sich seiner selbst vollstän-
dig bewußt. Demnach ist die Geschichte als das vernünftige Selbstbewußtseyn
des menschlichen Geschlechtes anzusehn“ (WWVII, Kap. 38, Hü 509).
248,12-17 Der Mensch fragt wohl einmal das Thier: warum redest du mir nicht
von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten und
sagen, das kommt daher dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte -
da vergass es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch
sich darob verwunderte.] Dieser Eingangsfabel, in der N. durch eine humo-
ristisch gestaltete Dialogszene den gedanklichen Gehalt der Textpassage zu
verlebendigen sucht, attestiert Hubert Thüring einen performativen Selbstwi-
derspruch: „Indem sie die Sprachfähigkeit des Tieres, mithin ein anthropomor-
phes Bewußtsein stillschweigend voraussetzt, versagt sie dem Tier gerade das
Glück des Vergessens, das sie ihm zusprechen möchte. Wenn man umgekehrt
die nackte Aussage über das Vergessensglück gelten ließe, dann hätte ja das
Tier sein Vergessen ehedem vergessen gehabt; von einem Willen zur Antwort
könnte gar nicht die Rede sein“ (Thüring 2001, 333). Vanessa Lemm sieht die
Originalität von UB II HL darin, dass N. hier tierisches Vergessen zur Bedin-
 
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