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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0442
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416 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

ren Name vom griechischen Substantiv kvcüv (Kyon: Hund) bzw. vom Adjektiv
KWiKoq (kynikos: hündisch) abgeleitet ist. Als Leitfigur der kynischen Philoso-
phenschule gilt Diogenes von Sinope, der sich mit einer äußerst bescheidenen
Behausung begnügte: mit einer Tonne. Für die Bezeichnung ,Kyniker4 existie-
ren verschiedene Erklärungsansätze: Begründet wird der Begriff u. a. mit dem
Versammlungsort der Kyniker, dem Ringplatz der athenischen Vorstadt Kyno-
sarges, und damit, dass die Kyniker mitunter in alten Vorratskrügen schliefen,
die ansonsten als Hundehütten Verwendung fanden.
Das ,Glück4, das N. im vorliegenden Kontext geradezu leitmotivisch expo-
niert, erblickten die Kyniker in der Tugend der Selbstgenügsamkeit: in der Be-
schränkung auf das Allernotwendigste. Daher lebten sie demonstrativ bedürf-
nislos und asketisch. Die Kyniker propagierten eine einfache, von materiellem
Luxus unabhängige Existenz als Individualisten, begaben sich in eine oft pro-
vokante Opposition zu gesellschaftlichen Konventionen und hinterfragten
nach Kriterien der Vernunft prinzipiell die Berechtigung der Gesellschaft, das
Leben des einzelnen durch Gesetze und Verhaltensnormen zu reglementieren.
In dieser Hinsicht unterschieden sich die Kyniker von Sokrates, den sie wegen
seiner unkonventionellen Überzeugungen sehr verehrten. Insgesamt wirkten
die Kyniker mehr durch ihre von den etablierten Normen abweichende Lebens-
praxis als durch eine ausformulierte Lehre. Dabei nutzten sie auch das Poten-
tial von sarkastischer Polemik und zynischem Witz, um ihre Zeitgenossen
durch gezielten Affront zum Nachdenken über den gewohnten Verhaltensko-
dex der Gesellschaft herauszufordern. Vor allem richteten sich die Vorbehalte
der Kyniker gegen Institutionen wie Religion und Ehe. Dennoch waren sie we-
der weltverachtende Einsiedler noch Revolutionäre, sondern brauchten die ge-
sellschaftliche Ordnung als Basis, um sich von ihr abgrenzen zu können.
250, 5 zwischen lauter Unlust, Begierde und Entbehren] Im Rahmen seiner pes-
simistischen Willensmetaphysik charakterisiert Schopenhauer das Leben als
Pendelbewegung zwischen heftigem Begehren und nur vorübergehender Be-
friedigung: als ein permanentes Missverhältnis, in dem sich Glück allenfalls als
punktuelle Ausnahmeerfahrung einstellt. In der Welt als Wille und Vorstellung
erklärt Schopenhauer: „Was wird erreicht durch das thierische Daseyn, wel-
ches so unübersehbare Anstalten erfordert? - Und da ist nun nichts aufzuwei-
sen, als die Befriedigung des Hungers und des Begattungstriebes und allenfalls
noch ein wenig augenblickliches Behagen, wie es jedem thierischen Individuo,
zwischen seiner endlosen Noth und Anstrengung, dann und wann zu Theil
wird. Wenn man Beides, die unbeschreibliche Künstlichkeit der Anstalten, den
unsäglichen Reichthum der Mittel, und die Dürftigkeit des dadurch Bezweck-
ten und Erlangten neben einander hält; so dringt sich die Einsicht auf, daß das
Leben ein Geschäft ist, dessen Ertrag bei Weitem nicht die Kosten deckt44
 
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