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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0485
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Stellenkommentar UB II HL 3, KSA 1, S. 267 459

Philosophie und Geschichte kontrastiert Schopenhauer auch in seinen Pa-
rerga und Paralipomena IP. „mehr noch, als jeder Andere, soll der Philosoph
[...] stets die Dinge selbst, die Natur, die Welt, das Leben ins Auge fassen [...],
und zwar sind es ihre großen, deutlichen Züge, ihr Haupt- und Grundcharak-
ter, woraus sein Problem erwächst. Demnach wird er die wesentlichen und
allgemeinen Erscheinungen, Das, was allezeit und überall ist, zum Gegenstän-
de seiner Betrachtung machen, hingegen die speciellen, besonderen, seltenen,
mikroskopischen, oder vorüberfliegenden Erscheinungen dem Physiker, dem
Zoologen, dem Historiker u. s. w. überlassen. Ihn beschäftigen wichtigere Din-
ge: das Ganze und Große der Welt, das Wesentliche derselben, die Grundwahr-
heiten, sind sein hohes Ziel“ (PP II, Kap. 3, § 34, Hü 52). Zu Schopenhauers
Geschichtskritik vgl. auch NK 258, 25-26 und NK 285, 23-26 sowie NK 292, 17-
19 und NK 300, 3-9.
In einem Nachlass-Notat aus der Entstehungszeit von UB II HL betont N.
(analog zu Schopenhauers kontrastiver Perspektive auf Philosophie und Ge-
schichte), „dass die Weisen aller Zeiten so unhistorisch gedacht haben“
(NL 1873, 29 [88], KSA 7, 670). Auch in UB III SE sind deutliche Affinitäten zu
Schopenhauers Konzept des Philosophen zu erkennen (vgl. NK 410, 3-5), und
zwar im Zusammenhang mit dem Antagonismus zwischen Genies und bloßen
Gelehrten (vgl. KSA 1, 410, 1-16). Im Gegensatz zu Schopenhauer weist N. in
UB III SE allerdings auch auf den Nutzen historischen Wissens für philosophi-
sche Erkenntnis hin: „Wenn die Beschäftigung mit Geschichte vergangener
oder fremder Völker werthvoll ist, so ist sie es am meisten für den Philosophen,
der ein gerechtes Urtheil über das gesammte Menschenloos abgeben will“
(KSA 1, 361, 2-5). Mit dieser Einschätzung antizipiert N. tendenziell bereits sei-
ne spätere Ausrichtung auf ein historisches Philosophieren4, das durch genea-
logische Untersuchungen die Genese moralischer, religiöser, ästhetischer und
kultureller Konzepte, Begriffe und Empfindungen erschließen soll. Vgl. auch
NK 267, 2-3.
267, 31-33 So duldeten selbst die Griechen den hieratischen Stil ihrer bildenden
Künste] Ein feierlich-starrer, hieratischer4 Ausdruck, der zugleich an den ar-
chaischen Stil erinnert, war ein spätzeitliches Phänomen des Hellenismus. N.
selbst trägt dieser Neigung zum Archaisieren Rechnung, indem er in der Geburt
der Tragödie Vorstellungen vom „Ursprung“, ja sogar von einer „Geburt“ der
Tragödie kultiviert und in diesem Zusammenhang Aischylos, den ersten der
drei großen griechischen Tragödiendichter, besonders würdigt. Von derartigen
Wertungsprämissen ausgehend, stellt N. die zeitgenössische Kultur des 19. Jahr-
hunderts als spätzeitlich „entartet“ und degeneriert dar. Vgl. auch NK 257, 28-
34 und NK 268, 21 sowie NK 307, 5-13.
 
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