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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0508
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482 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

lerweile so obsolet, dass sie vollends zu beseitigen sei: „Die Kun st periode ist
eine Fortsetzung der mythen- und religionbildenden Periode. / Es ist ein
Quell, aus dem Kunst und Religion fließt. / Jetzt ist es gerathen, die Reste des
religiösen Lebens zu beseitigen, weil sie matt und unfruchtbar sind
und die Hingebung an ein eigentliches Ziel abschwächen. Tod dem Schwa-
chen!“ (NL 1871, 9 [94], KSA 7, 309). Diese Auffassung gerät in einen gewissen
Kontrast zu N.s Strategie im vorliegenden Kontext von UB II HL, die darauf
zielt, der Religion und der Kunst die Funktion von „Helferinnen“ zuzuweisen.
Wenig später bringt N. seine Ausrichtung auf die künftige kulturelle Ent-
wicklung auch im programmatischen Appell an die Zeitgenossen zum Aus-
druck, sich für die „Erzeugung des Genius“ zu engagieren. Vgl. KSA 1, 358, 12;
386, 21-22; 387, 13-14; vgl. dazu NK 386, 21-22 (auch zum Genie-Begriff Scho-
penhauers). Über die Unzeitgemässen Betrachtungen hinaus prolongiert sich
N.s kulturschöpferische Intention auch in spätere Schaffensphasen. Aspekte
von Kultur, Kunst und Religion hatte er zuvor bereits in UB I DS synthetisiert,
und zwar in der Aussage, „das Genie“ stehe „mit Recht im Rufe, Wunder zu
thun“ (199, 20-22). Mit dieser Tendenz zu religiöser Überformung des Genie-
Topos schließt N. implizit auch an kulturhistorische Traditionen des Genie-
Gedankens seit der Antike an (vgl. dazu Jochen Schmidt 1985, Bd. I, 96-119,
255-277).
In einem nachgelassenen Notat von 1875 propagiert N. einen säkularisier-
ten, mithin von Vorstellungen einer göttlichen Transzendenz abgelösten Be-
griff von ,Religion4, den er zugleich auf die ästhetische Sphäre hin erweitert.
Dabei verbindet N. sein Religionskonzept mit dem Gestus einer Selbstüber-
schreitung, die er in den Dienst geistesaristokratischer pädagogischer Absich-
ten stellt: „Meine Religion, wenn ich irgendetwas noch so nennen darf, liegt
in der Arbeit für die Erzeugung des Genius; Erziehung ist alles zu Hoffende,
alles Tröstende heisst Kunst. Erziehung ist Liebe zum Erzeugten, ein
Überschuss von Liebe über die Selbstliebe hinaus. Religion ist ,Lieben über
uns hinaus4. Das Kunstwerk ist das Abbild einer solchen Liebe
über sich hinaus und ein vol[1]kommnes“ (NL 1875, 5 [22], KSA8,
46). Diese Koinzidenz von Religion und Kunst unterscheidet sich von N.s Aus-
sage, die „Kunstperiode“ sei als „eine Fortsetzung der mythen- und reli-
gionbildenden Periode“ zu betrachten (NL 1871, 9 [94], KSA 7, 309). Eine ana-
loge Einschätzung kulturgeschichtlicher Säkularisierungsprozesse enthält ein
nachgelassenes Notat von 1875, in dem N. „die Kunst“ als „eine höhere Stufe
der Religion“ bezeichnet, die „am Aussterben der Religionen“ erscheine
(NL 1875, 11 [20], KSA 8, 206). Zur Vorstellung von einer ,Heiligkeit4 der Kunst
und zu Aspekten einer Kunstreligion in UB IV WB (im Zusammenhang mit der
Mythisierung von Wagners Musik nach dem Vorbild antiker Mysterienkulte)
vgl. NK 434, 10-12 und NK 463, 31 - 464, 1.
 
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