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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0525
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Stellenkommentar UB II HL 6, KSA 1, S. 292 499

schichte. Zur Problematik von N.s ästhetischem Konzept der Historie im Sinne
einer Geschichtskonstruktion als strategischer Fiktion vgl. Kapitel IL9 des
Überblickskommentars. - N.s ästhetisch modelliertes Geschichtskonzept lässt
deutliche Affinitäten zu poetologischen Aussagen des Dramatikers Schiller er-
kennen, der in seiner Schrift Über das Pathetische erklärt, es sei „die poetische,
nicht die historische Wahrheit, auf welche alle ästhetische Wirkung sich grün-
det“ (Schiller: FA, Bd. 8, 448). In seiner Schrift Über die tragische Kunst zieht
Schiller die dramenpraktische Konsequenz aus dieser ästhetischen Prämisse,
indem er aus dem „poetischen Zweck“ der Tragödie deren „Macht“ ableitet,
„die historische Wahrheit den Gesetzen der Dichtkunst unter zu ordnen, und
den gegebenen Stoff nach ihrem Bedürfnisse zu bearbeiten“ (Schiller: FA,
Bd. 8, 272).
Die Vorstellung einer künstlerischen Objektivität übernimmt N. aus der Äs-
thetik Schopenhauers, der im Dritten Buch seines Hauptwerks Die Welt als Wil-
le und Vorstellung die reine Objektivität der ästhetischen Kontemplation mit
der Erkenntnis der ,Idee‘ korreliert (vgl. WWVI, § 34). Wenn N. wenig später
„jenen künstlerischen Zustand“ hervorhebt, „in welchem das Subject schweigt
und völlig unbemerkbar wird“ (293, 2-3), dann rekurriert er auch hier auf die
Ästhetik Schopenhauers, der das ,Schweigen4 des Willens in der Einstellung
zum ästhetischen Objekt als Charakteristikum interesseloser Kontemplation
und damit als Voraussetzung für eine ,reine4 objektive Erkenntnis versteht. Vgl.
auch NK 293, 18-19.
Während der von N. an früherer Stelle bereits erwähnte „Polybius“ (258,
20) für eine nüchterne, pragmatisch auf Fakten ausgerichtete Historiographie
plädiert und eine „der Wahrheit beraubte Geschichte“ für „nichts als eine un-
nütze Erzählung“ hält (NL 1873, 29 [70], KSA 7, 659), spricht sich N. selbst ent-
schieden für eine Historiographie aus, die historische Tatsachen auch durch
Fiktionen und identitätsstiftende Wunschvorstellungen überformt, sofern sich
diese für die Zwecke des Lebens funktionalisieren lassen und damit einer künf-
tigen Kultur dienen. (Zu den Differenzen im Verständnis der Geschichtsschrei-
bung bei Polybios und N. vgl. ausführlich NK 258, 19-21.) Laut N. darf der His-
toriker im Interesse des Lebens sogar die Grenze zur „freien Erdichtung“
überschreiten (262, 15) und eine strategische Konstruktion der Vergangenheit
vollziehen, die „eine grosse künstlerische Potenz, ein schaffendes Darüber-
schweben“ und „ein Weiterdichten an gegebenen Typen“ verlangt (292, 25-
27). - Dreizehn Jahre nach der Publikation von UB II HL kritisiert N. im Rah-
men seiner Moralkritik allerdings die „Fälschung der Historie“ (NL 1887, 7 [8],
KSA 12, 293) und fragt sich sogar, „ob Geschichte überhaupt möglich ist?“
(KSB 8, Nr. 804, S. 28). - Vgl. auch die kritischen Überlegungen zu N.s fiktiona-
lisierender Geschichtskonstruktion in Kapitel II.9 des Überblickskommentars.
 
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