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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0567
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Stellenkommentar UB II HL 9, KSA 1, S. 312 541

abendlichen Stimmung leben muss, seine Furcht, gar nichts mehr von seinen Ju-
gendhoffnungen und Jugendkräften in die Zukunft retten zu können.] In N.s
Schriften, auch in den einzelnen Kapiteln, sind häufig ringkompositorische
Strukturen festzustellen. So intoniert er in UB II HL am Anfang des 9. Kapitels
die Themen Jugend4 und ,Zukunft4, etwa wenn er hier von der Furcht „des
modernen Menschen44 spricht, „gar nichts mehr von seinen Jugendhoffnungen
und Jugendkräften in die Zukunft retten zu können“ (312, 2-6). In den beiden
letzten Abschnitten dieses Kapitels (322, 30 - 324, 9) entfaltet N. diese Themen,
um dann am Ende die Perspektive auf die ,Zukunft4 zu richten, indem er em-
phatisch das „Reich der Jugend“ ankündigt (324, 9). Auf die „ i r o n i s c h e Exis-
tenz“, die er zuvor bereits thematisiert hat (302, 23-24), kommt N. im vorliegen-
den Kontext erneut zu sprechen; dabei hebt er den Begriff „I r o n i e“ besonders
hervor (312, 2). Allerdings überbietet er ihn, wenn er anschließend sogar das
„Cynische“ einer affirmativen Einstellung zum ,Weltprozess4 betont und zu-
gleich die Haltung „des modernen Menschen“ kritisiert, der „den Gang der
Geschichte“ sowie die gesamte Entwicklung der Welt als unabdingbar notwen-
dig meint rechtfertigen zu können (vgl. 312, 7-12). Zur Thematik der Hoffnung
und der Zukunft vgl. auch das Kapitel II.3 des Überblickskommentars sowie
NK 295, 4-7 und NK 332, 5-33.
312,14-19 ihm bietet überdies das letzte Jahrzehnt eine seiner schönsten Erfin-
dungen zum Geschenke an, eine gerundete und volle Phrase für jenen Cynismus:
sie nennt seine Art zeitgemäss und ganz und gar unbedenklich zu leben „die volle
Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozess.“] N. zitiert hier aus Eduard von
Hartmanns Buch Philosophie des Unbewußten von 1869 (Abschnitt C, Kapi-
tel XIV): „die practische Philosophie und das Leben aber brauchen einen po-
sitiven Standpunct, und dies ist die volle Hingabe der Persönlich-
keit an den Weltprocess“ (638). Im Kontext dieser Textpassage spricht
Hartmann wiederholt vom „Weltprocess“. N. richtet also seine Attacke, die sich
im Folgenden gerade auf den „Weltprozess“ konzentriert, gegen einen markan-
ten Leitbegriff Eduard von Hartmanns. Der zitierte Satz befindet sich in einem
Kapitel, in dem Hartmann trotz seiner eigenen pessimistischen Überzeugung
den Pessimismus Schopenhauers entschieden zurückweist. In deutlicher Affi-
nität zu Hegel insistiert Hartmann hier optimistisch auf,Bewußtsein4 und ,Lo-
gik4; damit wendet er sich zugleich gegen Schopenhauers Konzeption eines
aufgrund permanenter Bedürftigkeit unseligen ,Willens4. In der von N. zitierten
Textpartie geht es Eduard von Hartmann nicht um theoretische Zusammenhän-
ge, sondern um „die practische Philosophie und das Leben“. Außerdem macht
er hier in modifizierter Form die Vorstellung4 Schopenhauers zum Thema.
Hartmanns Fazit lautet: „Das Resultat der letzten drei Capitel ist also fol-
gendes. Das Wollen hat seiner Natur nach einen Ueberschuss von Unlust zur
 
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