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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0576
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550 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

dadurch aber zugleich von den Prämissen der Schopenhauerschen Ethik ab,
die letztlich auf die „Verneinung des Willens zum Leben“, mithin auf eine Hal-
tung der „Entsagung“ und Resignation zielt. Auf den für Schopenhauers Wil-
lensmetaphysik programmatischen Pessimismus geht Hartmann ein, wenn er
erklärt: „Es ist jetzt auch ersichtlich, wie nur die hier entwickelte Einheit des
Optimismus und Pessimismus, von der jeder Mensch ein unklares Abbild als
Richtschnur seines Handelns in sich trägt, im Stande ist, einen energischen,
und zwar den denkbar stärksten Impuls zum thätigen Handeln zu geben, wäh-
rend der einseitige Pessimismus aus nihilistischer Verzweiflung, der einseitige
und wirklich consequente Optimismus aus behaglicher Sorglosigkeit zum
Quietismus führen muss“ (763-764). Schopenhauer allerdings verbindet den
Quietismus ausschließlich mit dem von der indischen Philosophie beeinfluss-
ten Ethos der Entsagung und gänzlichen Willenlosigkeit, das auf einer „Vernei-
nung des Willens zum Leben“ basiert.
Eine Grundtendenz in dem mit „Steinschrift“ hervorgehobenen Passus aus
Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewußten entspricht N.s eigener Po-
sition: „die Bejahung des Willens zum Leben“. Schon im Titel Vom Nutzen und
Nachtheil der Historie für das Leben fungiert das ,Leben4 als Leitbegriff. Demge-
mäß konzentriert N. seine Ausführungen im argumentativen Duktus von
UB II HL auf die Bejahung und Förderung des ,Lebens4, das er im Sinne des
Werktitels vor den nachteiligen Wirkungen der ,Historie4 schützen will. Noch
andere Positionen N.s korrespondieren weitgehend mit denjenigen Hartmanns:
So schreibt er bereits in der Geburt der Tragödie und in den nachgelassenen
Notaten zu diesem Erstlingswerk - wie später auch in der Historienschrift -
dem Unbewussten und dem Instinkt besondere Bedeutung zu. Außerdem ver-
sucht N. eine Alternative zu Schopenhauers Pessimismus und seinem resigna-
tiven Quietismus zu finden, indem er das tragische4 Lebensgefühl mit einer
Bejahung des ,Lebens4 synthetisiert, die ,Zukunft4 ermöglichen soll und in der
Tragödienschrift sogar eine Steigerung bis in dionysische Dimensionen erfährt
(vgl. dazu Neymeyr 2011, 369-391).
Auf diese Weise lässt N. eine Affinität zu Eduard von Hartmanns Konzept
der Versöhnung von metaphysischem Pessimismus und („vorläufig“ dem Le-
ben dienendem) Optimismus erkennen. Dass N. Hartmann dennoch attackiert,
ist sicher auch mit seinem Bedürfnis nach Abgrenzung von der damals außer-
ordentlich erfolgreichen Philosophie des Unbewußten zu erklären: Durch dieses
Werk Hartmanns sah sich N. provoziert - nicht zuletzt aufgrund seines eigenen
Wunsches nach großer öffentlicher Präsenz. Darüber hinaus nahm N. Anstoß
an der Schopenhauer-Kritik, die Hartmann wiederholt formulierte (vgl. NK 316,
16-17). Außerdem sind N.s Vorbehalte gegenüber der Philosophie des Unbewuß-
ten auch durch Hartmanns Bekenntnis zu einer auf die „Realität“ ausgerichte-
 
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