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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0579
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Stellenkommentar UB II HL 9, KSA 1, S. 317 553

richtung und ihre Gesetze (1774) im Sinne eines nationalen kulturpolitischen
Programms fortführte. Vor dem historischen Hintergrund der prekären Situati-
on der deutschen Bildungsinstitutionen ist die Vorstellung einer Gelehrten-
Republik4 als Gemeinschaft derer zu verstehen, die unabhängig von staatlicher
Institutionalisierung zur Förderung der deutschen Kultur beitragen. - Scho-
penhauer kommt in den Parerga und Paralipomena II allerdings zu einem nega-
tiven Urteil über die Gelehrtenrepublik: „In der Gelehrten-Republik“ ist laut
Schopenhauer „Jeder bloß auf seinen Vortheil bedacht [...], Ansehn und
Macht für sich suchend, ganz unbekümmert um das Ganze, welches darüber
zu Grunde geht“ (PP II, Kap. 21, § 252, Hü 514). Ebenfalls in den Parerga und
Paralipomena II konstatiert Schopenhauer eine „kolossale Aufschneiderei und
Narrensposse“, die „besonders von den Unwissendesten der Gelehrtenrepublik
mit einer so kindlichen Zuversicht und Sicherheit nachgesprochen wird“ (PP II,
Kap. 6, § 77, Hü 117).
Mit den Missständen einer solchen „Gelehrtenrepublik“ kontrastiert Scho-
penhauer in einem nachgelassenen Manuskriptbuch aus dem Jahre 1824 die
Idealvorstellung einer Genialen-Republik. Die Textpassage zur „Genialen-
Republik“, auf die sich N. bezieht (317, 18), lautet so (HN 3, 188):
„Von der Gelehrten-Republik ist oft die Rede, aber nicht von der Genialen-
Republik. In dieser geht es so zu: - ein Riese ruft dem andern zu, durch den öden
Zwischenraum der Jahrhunderte, ohne daß die Zwergenwelt, welche darunter wegkriecht,
etwas mehr vernähme, als Getön, und mehr verstände, als daß überhaupt etwas vorgeht:
und wiederum, dies Gezwerge treibt da unten unaufhörlich Possen und macht großen
Lerm, schleppt sich mit dem was Jene haben fallen lassen, proklamirt Heroen, die selbst
Zwerge sind, u. dgl. m., wovon jene Riesengeister sich nicht stören lassen, sondern ihr
hohes Geistergespräch fortsetzen. Ich meine: jedes Genie versteht, was vor Zeiten seines
Gleichen sagte, ohne von den zugleich und dazwischen Lebenden verstanden zu werden,
und sagt was die Mitlebenden nicht verstehn, aber dereinst sein Gleicher schätzen wird
und beantworten. - Sie figuriren derweil sonderbar unter den Zwergen, und sehn es
selbst, dürfen aber doch nicht von ihnen Notiz nehmen, damit keine Konfusion entstehe“.
Diese Notiz ist von einem entschiedenen Geistesaristokratismus geprägt, mit
dem Schopenhauer auch die über Jahrzehnte zunächst nur geringe Wirkung
seiner Werke zu kompensieren versuchte. In einer analogen Situation befand
sich der junge Nietzsche, dessen Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie eine
sehr kritische Resonanz gefunden hatte. In UB III SE scheint sich N. im Hin-
blick auf die Einsamkeit des „Genius“ (KSA 1, 363, 3) mit Schopenhauer zu
identifizieren: „Es macht uns traurig, ihn auf der Jagd nach irgend welchen
Spuren seines Bekanntwerdens zu sehen; und sein endlicher lauter und über-
lauter Triumph darüber, dass er jetzt wirklich gelesen werde (,legor et legar‘)
hat etwas Schmerzlich-Ergreifendes“ (KSA 1, 353, 14-18). - Vgl. NK 353, 17 mit
 
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