Stellenkommentar UB II HL 10, KSA 1, S. 324-326 561
dezidiert gegen extreme Formen der Barockliteratur, die er in seiner Critischen
Dichtkunst (1730) als „Schwulst“ und „Bombast“ kritisierte. Er selbst hingegen
orientierte sich am Normensystem des französischen Klassizismus, auf den N.
hier mit dem Begriff „Klassicität“ Bezug nimmt. Da Gottsched als Schüler Chris-
tian Wolffs die Vernunft zum Maßstab erhob, avancierte er zu einem der Haupt-
repräsentanten des frühaufklärerischen Rationalismus. Über einen Zeitraum
von Jahrzehnten hatte sein literarisches Urteil singuläres Gewicht. Die Funktion
der Poesie sah Gottsched darin, zur Verbreitung einer vernunftgemäßen ,Moral4
beizutragen, einen auf internalisierter Vernunft beruhenden , Geschmack4 zu
fördern und den ,Witz4 als rationale Methode des Kombinierens auszubilden.
Motiviert waren seine Konzepte durch die Programmatik der Aufklärungsepo-
che, in der man mit Nachdruck die Verbreitung der Vernunft propagierte. Gott-
sched verstand Natur und Kunst nur als anschaulich gewordene Regelsysteme
und betrachtete den Dichter als einen rational organisierten und zugleich ge-
lehrten ,Kopf4, mithin als ,poeta doctus4. Nach Lessing übten auch die Dichter
der Sturm-und-Drang-Periode Kritik an Gottsched.
Karl Wilhelm Ramler (1725-1798), ein Freund Lessings und Nicolais, wirkte
als Dichter, Übersetzer und Direktor der Königlichen Schauspiele in Berlin. Mit
seinen Oden, die sich streng an das antike Versmaß hielten, wurde er zum
formalen Vorbild für andere Dichter seiner Zeit - analog zu Pindar, der in der
Antike als Paradigma hoher Dichtung galt. Die Sturm-und-Drang-Autoren aller-
dings entwarfen ein Pindar-Bild ganz anderer Art: Für sie stand die Vorstellung
eines originär naturhaften Genies im Vordergrund, das sich von allen Regeln
dispensieren sollte. So verfasste der junge Goethe die Hymne Wandrers Sturm-
lied und orientierte sich dabei an der Pindar-Ode des Horaz (carmina IV, 2). N.
identifizierte sich in einem nachgelassenen Notat aus der Entstehungszeit der
Geburt der Tragödie mit diesem dithyrambischen Sturmlied des jungen Goethe,
das sich auf die Leitvorstellung des ,Genies4 konzentriert, und schrieb daraus
sogar eine ganze Strophe ab: „Den du nicht verlässest, Genius [...]“ (NL 1871,
13 [1], KSA 7, 371). Dort ist an einer vorangehenden Notiz zu erkennen, dass N.
Wandrers Sturmlied sogar als programmatisches Gedicht für den „Schluß der
Einleitung“ zu seiner Tragödienschrift in Betracht zog (ebd.). Zu den Vorstel-
lungen von Genius und Genialität, die N. von Schopenhauer übernimmt, vgl.
ausführlich NK 386, 21-22.
326,13-14 der historisch-aesthetische Bildungsphilister] Den Begriff „Bildungs-
philister“ gebraucht N. zuvor bereits in UB I DS (KSA 1, 165, 6), wo er gegen
David Friedrich Strauß als Prototyp des Bildungsphilisters polemisiert. Dass
N. das Kompositum ,Bildungsphilister4 keineswegs nur als Spezifikation des
Simplex ,Philister4 verwendet, zeigt seine Definition in UB I DS: „Das Wort Phi-
lister ist bekanntlich dem Studentenleben entnommen und bezeichnet in sei-
dezidiert gegen extreme Formen der Barockliteratur, die er in seiner Critischen
Dichtkunst (1730) als „Schwulst“ und „Bombast“ kritisierte. Er selbst hingegen
orientierte sich am Normensystem des französischen Klassizismus, auf den N.
hier mit dem Begriff „Klassicität“ Bezug nimmt. Da Gottsched als Schüler Chris-
tian Wolffs die Vernunft zum Maßstab erhob, avancierte er zu einem der Haupt-
repräsentanten des frühaufklärerischen Rationalismus. Über einen Zeitraum
von Jahrzehnten hatte sein literarisches Urteil singuläres Gewicht. Die Funktion
der Poesie sah Gottsched darin, zur Verbreitung einer vernunftgemäßen ,Moral4
beizutragen, einen auf internalisierter Vernunft beruhenden , Geschmack4 zu
fördern und den ,Witz4 als rationale Methode des Kombinierens auszubilden.
Motiviert waren seine Konzepte durch die Programmatik der Aufklärungsepo-
che, in der man mit Nachdruck die Verbreitung der Vernunft propagierte. Gott-
sched verstand Natur und Kunst nur als anschaulich gewordene Regelsysteme
und betrachtete den Dichter als einen rational organisierten und zugleich ge-
lehrten ,Kopf4, mithin als ,poeta doctus4. Nach Lessing übten auch die Dichter
der Sturm-und-Drang-Periode Kritik an Gottsched.
Karl Wilhelm Ramler (1725-1798), ein Freund Lessings und Nicolais, wirkte
als Dichter, Übersetzer und Direktor der Königlichen Schauspiele in Berlin. Mit
seinen Oden, die sich streng an das antike Versmaß hielten, wurde er zum
formalen Vorbild für andere Dichter seiner Zeit - analog zu Pindar, der in der
Antike als Paradigma hoher Dichtung galt. Die Sturm-und-Drang-Autoren aller-
dings entwarfen ein Pindar-Bild ganz anderer Art: Für sie stand die Vorstellung
eines originär naturhaften Genies im Vordergrund, das sich von allen Regeln
dispensieren sollte. So verfasste der junge Goethe die Hymne Wandrers Sturm-
lied und orientierte sich dabei an der Pindar-Ode des Horaz (carmina IV, 2). N.
identifizierte sich in einem nachgelassenen Notat aus der Entstehungszeit der
Geburt der Tragödie mit diesem dithyrambischen Sturmlied des jungen Goethe,
das sich auf die Leitvorstellung des ,Genies4 konzentriert, und schrieb daraus
sogar eine ganze Strophe ab: „Den du nicht verlässest, Genius [...]“ (NL 1871,
13 [1], KSA 7, 371). Dort ist an einer vorangehenden Notiz zu erkennen, dass N.
Wandrers Sturmlied sogar als programmatisches Gedicht für den „Schluß der
Einleitung“ zu seiner Tragödienschrift in Betracht zog (ebd.). Zu den Vorstel-
lungen von Genius und Genialität, die N. von Schopenhauer übernimmt, vgl.
ausführlich NK 386, 21-22.
326,13-14 der historisch-aesthetische Bildungsphilister] Den Begriff „Bildungs-
philister“ gebraucht N. zuvor bereits in UB I DS (KSA 1, 165, 6), wo er gegen
David Friedrich Strauß als Prototyp des Bildungsphilisters polemisiert. Dass
N. das Kompositum ,Bildungsphilister4 keineswegs nur als Spezifikation des
Simplex ,Philister4 verwendet, zeigt seine Definition in UB I DS: „Das Wort Phi-
lister ist bekanntlich dem Studentenleben entnommen und bezeichnet in sei-