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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0588
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562 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

nem weiteren, doch ganz populären Sinne den Gegensatz des Musensohnes,
des Künstlers, des ächten Kulturmenschen. Der Bildungsphilister aber [...] un-
terscheidet sich von der allgemeinen Idee der Gattung , Philister4 durch Einen
Aberglauben: er wähnt selber Musensohn und Kulturmensch zu sein; ein unbe-
greiflicher Wahn, aus dem hervorgeht, dass er gar nicht weiss, was der Philis-
ter und was sein Gegensatz ist“ (KSA 1, 165, 7-16). In den von N. publizierten
Werken kommt der Begriff ,Bildungsphilister4 nach UB I DS (KSA 1, 165, 6)
noch fünfmal vor, davon dreimal in den unmittelbar folgenden Schriften
UB II HL (326, 13-14) und UB III SE (KSA 1, 352, 27; 401, 24-25) und zweimal
mit Bezug auf UB I DS in Menschliches, Allzumenschliches II (KSA 2, 370, 3-4)
und in Ecce homo (KSA 6, 317, 16).
Im Hinblick auf den Begriff,Bildungsphilister4 erhebt N. sogar einen Priori-
tätsanspruch, wenn er in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II
sich selbst „die Vaterschaft des jetzt viel gebrauchten und missbrauchten Wor-
tes“ zuschreibt (KSA 2, 370, 2-4). Dementsprechend erklärt er in Ecce homo im
Rückblick auf seine Unzeitgemässen Betrachtungen (mit konkretem Bezug auf
UB I DS): „das Wort Bildungsphilister ist von meiner Schrift her in der Sprache
übrig geblieben“ (KSA 6, 317, 16-17). - N.s Prioritätsanspruch ist jedoch nicht
berechtigt. (Vgl. dazu KSA 14, 163. Herman Meyer 1963, 179-201.) So nennt
Friedrich Kluges Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (1967) ei-
nen Beleg zum Begriff,Bildungsphilister4 bereits im Jahr 1866. Vor N.s UB I DS
und UB II HL betont auch Rudolf Haym schon 1870 „die prosaische Superklug-
heit der Bildungsphilister“ (Haym 1870, 88). Und der abstrakte Begriff ,Bil-
dungsphilisterei4 lässt sich bereits in Bettina von Arnims Briefwechsel mit Phi-
lipp Nathusius belegen, der 1848 unter dem Titel Ilius Pamphilius und die
Ambrosia erschien; vgl. hier die Aussage: „Friß und raisonire nicht, dies
Sprüchelchen ist ein Talisman der Dich vor mancher Bildungsphilisterei abhal-
ten kann“ (Bettina von Arnim: Sämmtliche Schriften, Bd. 7, 1857, 265). Vgl. er-
gänzend auch NK 6/2, 493-494.
Der Begriff,Bildungsphilister4 ist im 19. Jahrhundert vom romantischen Be-
griff des ,Philisters4 geprägt, der ursprünglich aus der Studentensprache
stammt. Jacob Grimms und Wilhelm Grimms Deutsches Wörterbuch definiert
den ,Philister4 folgendermaßen: „ein nüchterner, pedantischer, beschränkter,
lederner mensch ohne sinn für eine höhere und freiere auffassung“, also ein
Spießbürger (vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 13,1889, Sp. 1827). Im Deutschen
Wörterbuch finden sich auch Belege aus Werken Goethes und Heines (vgl.
ebd.). Schon Tieck hatte in seinen satirischen Märchendramen Prinz Zerbino
(1799) und Verkehrte Welt (1800), die auch Schopenhauer rezipierte, den Be-
griff des „Philisters“ lanciert. Als zentrales Dokument für die Auseinanderset-
zung der Romantiker mit dem Typus des Philisters gilt Clemens Brentanos
 
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