32 Jenseits von Gut und Böse
sen ins Positive: „Wie sehr dieß [...] dem allgemeinen Denken und Trachten der
Zeit zuwiderläuft, braucht nicht erst gesagt zu werden“, doch liege gerade da-
rin der Wert von N.s originellen Gedanken, denn ein „so muthiger und kräftiger
Schwimmer gegen den Strom ist an und für sich eine angenehme Erscheinung“
(ebd., 622).
Trotz Widmanns positiver Rezension veranlasste der allgemeine Tenor des
medialen Echos N. zum bitteren Fazit in einem Brief an Overbeck vom
12. 02.1887, dass in „fünfzehn Jahren auch nicht eine einzige werthvolle sach-
lich-tiefe, interessante und interessirte Recension“ über eines seiner Bücher
geschrieben worden sei, dass „in eben diesen fünfzehn Jahren auch nicht Ein
Mensch mich »entdeckt4 hat, mich nöthig gehabt hat, mich geliebt hat, und
daß ich diese lange erbärmliche schmerzenüberreiche Zeit durchlebt habe,
ohne durch eine ächte Liebe getröstet worden zu sein“ (KSB 8/KGB III/5,
Nr. 798, S. 20, Z. 39-49). Währenddessen schwankten die Rezensenten JGB ge-
genüber weiterhin zwischen Ratlosigkeit und Ablehnung. Conrad Hermann
sprach in den Blättern für literarische Unterhaltung diese Überforderung kon-
kret an, wenn er sich fragte, ob N. von der „Noth“ wisse, „welche er seinem
Recensenten“ mit JGB bereitet habe (zitiert nach Reich 2013, 633). Das Buch sei
ohne Zweifel gut gemeint, entziehe sich jedoch einem einfachen, unmittelba-
ren Verständnis und verliere sich in Andeutungen sowie verschleierten Orakel-
sprüchen. Ähnlich klingt es im Brief des Malers Arthur Fitger an Georg Brandes
vom 07. 05.1890: „Ich habe mir vor Jahren auf Ihre dringende Mahnung hin
Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse4 angeschafft; aber ich mußte das Buch
als eines mit sieben Siegeln wieder weglegen. Fast niemals verstand ich, was
der Mann überhaupt wollte, geschweige, daß ich Stellung zu seinen Gedanken
nehmen konnte.“ (Zitiert nach Kr I, 128, Fn. 146). Johannes Schlaf brachte JGB
in der Allgemeinen Deutschen Universitätszeitung mit einem „Bankrotte der Phi-
losophie“ in Verbindung, empfand die Idee vom „Wille [n] zur Macht“ als „nicht
gerade sehr originell[.]44, zumal Gedanken wie dieser den Autor zu einem „gera-
dezu krankhaften Kult der Persönlichkeit und zu einem recht dünkelhaften
Selbstbewußtsein“ verleitet hätten, „das sich recht frevelhaft und recht töricht
über die nach Ausgestaltung ringenden Strömungen der Gegenwart hinweg-
setzt“ (zitiert nach Reich 2013, 646 f.). Georg von Gizycki wiederum hielt JGB
in der Deutschen Rundschau für „eine Sammlung stylistisch vollendeter, geist-
reicher, origineller, jedoch großentheils barocker und bizarrer Aphorismen“
und fand darin viele Gedanken, die „die Sphäre des Pathologischen, Psychiat-
rischen“ streiften (zitiert nach Reich 2013, 650). Auf die von E. H. gezeichnete,
gehässige Kurzbesprechung in der als „Kreuzzeitung“ bekannten Neuen preu-
ßischen Zeitung vom 31.10.1886 geht N. in der Zweiten Nachschrift zum Fall
Wagner sogar explizit ein (vgl. NK KSA 6, 46, 8, dort auch vollständiger Ab-
druck des Rezensionswortlautes).
sen ins Positive: „Wie sehr dieß [...] dem allgemeinen Denken und Trachten der
Zeit zuwiderläuft, braucht nicht erst gesagt zu werden“, doch liege gerade da-
rin der Wert von N.s originellen Gedanken, denn ein „so muthiger und kräftiger
Schwimmer gegen den Strom ist an und für sich eine angenehme Erscheinung“
(ebd., 622).
Trotz Widmanns positiver Rezension veranlasste der allgemeine Tenor des
medialen Echos N. zum bitteren Fazit in einem Brief an Overbeck vom
12. 02.1887, dass in „fünfzehn Jahren auch nicht eine einzige werthvolle sach-
lich-tiefe, interessante und interessirte Recension“ über eines seiner Bücher
geschrieben worden sei, dass „in eben diesen fünfzehn Jahren auch nicht Ein
Mensch mich »entdeckt4 hat, mich nöthig gehabt hat, mich geliebt hat, und
daß ich diese lange erbärmliche schmerzenüberreiche Zeit durchlebt habe,
ohne durch eine ächte Liebe getröstet worden zu sein“ (KSB 8/KGB III/5,
Nr. 798, S. 20, Z. 39-49). Währenddessen schwankten die Rezensenten JGB ge-
genüber weiterhin zwischen Ratlosigkeit und Ablehnung. Conrad Hermann
sprach in den Blättern für literarische Unterhaltung diese Überforderung kon-
kret an, wenn er sich fragte, ob N. von der „Noth“ wisse, „welche er seinem
Recensenten“ mit JGB bereitet habe (zitiert nach Reich 2013, 633). Das Buch sei
ohne Zweifel gut gemeint, entziehe sich jedoch einem einfachen, unmittelba-
ren Verständnis und verliere sich in Andeutungen sowie verschleierten Orakel-
sprüchen. Ähnlich klingt es im Brief des Malers Arthur Fitger an Georg Brandes
vom 07. 05.1890: „Ich habe mir vor Jahren auf Ihre dringende Mahnung hin
Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse4 angeschafft; aber ich mußte das Buch
als eines mit sieben Siegeln wieder weglegen. Fast niemals verstand ich, was
der Mann überhaupt wollte, geschweige, daß ich Stellung zu seinen Gedanken
nehmen konnte.“ (Zitiert nach Kr I, 128, Fn. 146). Johannes Schlaf brachte JGB
in der Allgemeinen Deutschen Universitätszeitung mit einem „Bankrotte der Phi-
losophie“ in Verbindung, empfand die Idee vom „Wille [n] zur Macht“ als „nicht
gerade sehr originell[.]44, zumal Gedanken wie dieser den Autor zu einem „gera-
dezu krankhaften Kult der Persönlichkeit und zu einem recht dünkelhaften
Selbstbewußtsein“ verleitet hätten, „das sich recht frevelhaft und recht töricht
über die nach Ausgestaltung ringenden Strömungen der Gegenwart hinweg-
setzt“ (zitiert nach Reich 2013, 646 f.). Georg von Gizycki wiederum hielt JGB
in der Deutschen Rundschau für „eine Sammlung stylistisch vollendeter, geist-
reicher, origineller, jedoch großentheils barocker und bizarrer Aphorismen“
und fand darin viele Gedanken, die „die Sphäre des Pathologischen, Psychiat-
rischen“ streiften (zitiert nach Reich 2013, 650). Auf die von E. H. gezeichnete,
gehässige Kurzbesprechung in der als „Kreuzzeitung“ bekannten Neuen preu-
ßischen Zeitung vom 31.10.1886 geht N. in der Zweiten Nachschrift zum Fall
Wagner sogar explizit ein (vgl. NK KSA 6, 46, 8, dort auch vollständiger Ab-
druck des Rezensionswortlautes).