Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0058
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
38 Jenseits von Gut und Böse

sentiert, der zur Hauptsache eine elitäre Ideologie auf Grundlage eines biolo-
gistischen Rassismus propagiert. Dies ließ sich dann organisch verbinden mit
dem Schlagwort des „Willens zur Macht“, und zwar nicht als einem ontologi-
schen Begriff, sondern als einer Kampfansage: „In Nietzsche’s Unterscheidung
der Herren-Moral (,Gut‘ — »Schlecht4, von Oben aus gesehen) und der Sklaven-
Moral (,Gut‘ — ,Böse‘, von Unten aus gesehen) und der parallel laufenden Mo-
ralen des aufsteigenden und des niedergehenden Lebens liegt nicht nur die
einzige Möglichkeit der Diagnose unsrer europäischen Willenserkrankung und
Verdüsterung, sondern zugleich das Mittel zu ihrer Sanirung. Nietzsche er-
kannte schliesslich das Kräftespiel der gesammten Naturerscheinungen unter
einander als im Zeichen des »Willens zur Macht4 (gleichsam der Herren-Moral)
stehend“ (GoA 7, If.). Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Otto
Flake - der sein N.-Buch heimlich während des Dritten Reiches schrieb und
erst nach dessen Zusammenbruch publizieren konnte - der Antidemokratis-
mus und die Herrenmoral in JGB als Steilvorlage für die nationalsozialistische
Ideologie erschienen: „Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Nietzsche
für die Greuel der Hitlerzeit mit verantwortlich ist“ (Flake o. J.» 245).
1914 erschien beim Verleger T. N. Foulis eine Auflage der bereits früher
publizierten, englischen JGB-Übersetzung von Helen Zimmern mit einem riesi-
gen Aufdruck auf dem Schutzumschlag: „NIETZSCHE / THE PREACHER OF
WAR / BEYOND GOOD & EVIL / WAR EDITION“. Der Rezensent Alfred Richard
Orage (unter dem Kürzel-Pseudonym R. H. C.) merkte in der Wochenzeitschrift
The New Age dazu an: „Mr. Foulis, the publisher of Dr. Oscar Levy’s splendid
complete edition of Nietzsche [...] has just disfigured a cheap edition of »Beyond
Good and Evil4 (Is. [= 1 Shilling]), with remarks on the cover to the effect that
»Nietzsche4 is /150/ ,the Preacher of War4 and that this is a »War Edition.4 The
man is [...] indecently Opportunist [...]. Has Mr. Foulis, I wonder, ever read
»Beyond Good and Evil4? Does he know what it is about? The book has, of
course, just as much to do with the war as the writings of Locke, say, or Epicte-
tus. The edition, however, when the covers are torn off, is all that can be desi-
red - beautifully printed on very good paper. Mr. Foulis is a good producer“
([Orage] 1914, 149 f.).
In der jüngeren Rezeption ist auffällig, wie stark N.s angebliche »Hauptleh-
ren4 der Ewigen Wiederkunft und des Willens zur Macht nach wie vor die Inter-
pretation von JGB bestimmen, obwohl zumindest ein erster, oberflächlicher Be-
fund nur wenige zu diesen Themen unmittelbar relevante Textstellen namhaft
machen könnte (richtig sieht dies schon Tanner 1986, 201). Die Festlegung N.s
auf bestimmte »Hauptlehren4 charakterisiert bereits die philosophische N.-Deu-
tung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der es wesentlich darum ging,
N. philosophisch einzugemeinden. Sie setzt damit eine Tendenz beim späten
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften