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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0099
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Stellenkommentar JGB 1, KSA 5, S. 15 79

Rückfrage aneigneten. Als neuer Ödipus (vgl. NL 1885, KSA 11, 40[68], 667, 31,
entspricht KGW IX 4, W I 7, 16, 14) antwortet das „Wir“ nicht länger auf die
Frage der Sphinx, gehorcht also nicht mehr fraglos dem „Willen zur Wahrheit“,
sondern erwidert, „endlich einmal misstrauisch“ (KSA 5, 15, 10 f.) geworden,
die Frage mit einer Kaskade von Gegenfragen, die die Sphinx qua „Wille zur
Wahrheit“ selbst in Frage stellen. JGB 1 enthält nicht weniger als zwölf Frage-
zeichen: „ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen“
(KSA 5, 15, 22 f.).
Die Sphinx-Metapher, angelehnt an zeittypisch modische Inszenierungen
der femme fatale, ist in der von N. gelesenen Literatur stark präsent. So hat er
sich in Paul Bourgets Nouveaux essais de Psychologie contemporaine die folgen-
de Stelle über den sphingischen Charakter der Frau markiert: „Pour les artistes
purs, le charme supreme de l’etre feminin reside precisement dans ces sinuosi-
tes incertaines et dangereuses de caractere. Ils sont ravis que le sphinx dissi-
mule si profondement son enigme, parce que cette enigme double d’infini les
prunelles de l’inaccessible creature, capable d’etre Fange et capable d’etre le
demon, et l’un et l’autre tour ä tour.“ (Bourget 1886, 53; N.s Unterstreichungen,
letzter Satz von ihm mit Randstrich markiert. „Für die reinen Künstler liegt
der überlegene Reiz des weiblichen Wesens genau in diesen unsicheren und
gefährlichen Windungen des Charakters. Sie freuen sich, dass die Sphinx so
tief ihr Rätsel verbirgt, weil dieses Rätsel die Pupillen der unerreichbaren Krea-
tur unendlich verdoppelt, die fähig ist, der Engel zu sein, und die fähig ist, der
Dämon und der eine und der andere der Reihe nach zu sein.“)
15,19-21 Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor uns hin, — oder waren
wir’s, die vor das Problem hin traten?] Erstmals über den „Werth der Wahrheit“
sprach N. öffentlich in MA II WS 4, KSA 2, 540 f.; dort wird die Auffassung
kritisiert, die für die Erkenntnis einer Wahrheit aufgewendete Mühe entscheide
über ihren Wert. Im Nachlass experimentierte N. mit der Formel „Werth der
Wahrheit“ als Kapitelüberschrift in einem Entwurf zum nie realisierten Werk
„Der Wille zur Macht“ (NL 1886/87, KSA 12, 5[75], 218, 18, entspricht KGW IX 3,
N VII3, 33, 8). Noch in den Reflexionen des letzten Schaffens]ahres zur Genese
des Nihilismus wird unter dem Stichwort „Vom Werthe der Wahrheit“ auch
der „Glaube an die Wahrheit“ notiert, sowie der „Niedergang dieses höchsten
Werthes“ (NL 1888, KSA 13, 13[4], 215, 10 f., vgl. auch NK KSA 6, 380, 10 f.).
Nihilismus scheint also gerade dadurch charakterisiert, dass der Glaube an die
Wahrheit und damit ihre Werthaftigkeit schwinden. In JGB 1 sowie in GM III
24 spricht ein Anwalt einer (starken) Form des Nihilismus, der den Glauben
an die Wahrheit und ihre Werthaftigkeit bewusst verabschiedet, um für neue
Weltsichten und Moralen Raum zu schaffen: „Der Wille zur Wahrheit bedarf
einer Kritik — bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe —, der Werth der
 
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