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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0108
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88 Jenseits von Gut und Böse

sie eben nur dadurch hätten, daß sie selber mit jenen schlimmen, scheinbar
entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, nah verwandt,
wohl gar nicht nur sind? (a) Aber wer hat Lust ist Willens, sich um solche
,Vielleichts‘ zu kümmern! Es geht wider den guten Geschmack, vor allem wider
die Tugend, wenn die Wahrheit anfängt, dergestalt anstößig zu werden, wenn
die Wahrheit ihre Schleier dergestalt abreißt und alle gute Scham verleugnet:
ist da nicht Vorsicht vor einem solchen Frauenzimmer anzurathen? (b) Viel-
leicht! Aber wer ist wohl Willens, sich um diese gefährlichen „Vielleichts“ zu
kümmern! Das geht wider den guten Geschmack, sagt ihr mir, es geht auch
wider die Tugend selber Keuschheit Tugend. Wenn die Wahrheit anfängt, der-
gestalt anstößig zu werden, wenn dieses unbedenkliche Frauenzimmer ihre
Schleier bis zu diesem Maaß zu werfen und alle gute Scham zu verleugnen
beginnt: fort, fort mit dieser Verführerin! Mag sie fürderhin ihre eignen Wege
gehen! Gegen ein solches Frauenzimmer kann man gar nicht vorsichtig genug
sein! ,Und eher, sagt ihr mir mit einem Augenblinzeln, dürfte man noch mit
einem bescheidenen und schamhaften Irrthum zusammenwandeln, mit einer
kleinen artigen Lüge —‘“.
3.
17,15-17 man muss noch den grössten Theil des bewussten Denkens unter die
Instinkt-Thätigkeiten rechnen] Der Instinkt-Begriff spielte bereits beim frühen N.
eine wichtige Rolle, und zwar durchaus in denunziatorischer Absicht. So wur-
de Euripides zum Vorwurf gemacht, er hätte das Instinktive verraten (KGW II
3, 37, dazu NK KSA 1, 87, 13-15, vgl. auch NK KSA 6, 69, 21 f.), ein Vorwurf, von
dem vor allem auch Sokrates nicht ausgenommen wird (NL 1869, KSA 7, l[106],
41, 6-11). Dabei operierte N. mit einer Entgegensetzung von Instinkt und Ratio-
nalität - eine Entgegensetzung, die im Spätwerk wiederkehren sollte (vgl. NK
KSA 6, 40, 23-41, 1, ferner NK KSA 6, 172, 15-17 u. Vinzens 1999). Die Pointe
des Instinkt-Rekurses von JGB 3 besteht darin, dass der Gegensatz von Instinkt
und Rationalität kassiert und „das meiste bewusste Denken“ in 17, 21-24
schließlich unter das Joch der Instinkte gezwungen wird. Diese Vorstellung
passt durchaus zu N.s einschlägigen naturwissenschaftlichen Lektüren: „Das
instinctive Handeln bildet [...] in jeder Hinsicht die Grundlage zu den Willens-
äusserungen im engeren Sinn. [...] Instinct ist das psychische Stre-
ben nach Arterhaltung ohne Bewusstsein des Zweckes von
diesem Streben.“ (Schneider 1882, 109) Bei N. wird also unter Rückgriff
auf naturwissenschaftliche Gewährsleute der philosophische Glauben an die
Macht des Bewusstseins attackiert. Zahlreiche Lesespuren hinterlassen hat N.
in Otto Liebmanns Aufsatz „lieber den Instinct“ (Liebmann 1880, 409-434)
 
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