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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0140
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120 Jenseits von Gut und Böse

grassierenden decadence (und insbesondere Richard Wagners) angestrebt
wird.
Die Stoiker tun nach 22,19-21 aber nicht nur der Natur Gewalt an, sondern
tyrannisieren sich selbst. Während der Vorwurf, sie gäben sich der vergebli-
chen Hoffnung hin, sie vermöchten die Natur selbst zu tyrannisieren, nur die
rhetorische Potenzierung des Projektionsvorwurfs ist, stellt die Behauptung,
„Stoicismus ist Selbst-Tyrannei“ (vgl. zur kritischen Analyse Neymeyr 2009)
die genaue Umkehrung des stoischen Selbstverständnisses dar, das auf die Be-
freiung tyrannischer Einflüsse abzielt, um so in größtmöglicher Freiheit dasje-
nige zu werden, was man eigentlich schon ist, nämlich ein tugendhaft-ver-
nünftiges Wesen: „Ein Weg aber, sagt er [sc. Epiktet], führet zur Freiheit, die
Verachtung des Nicht-bei-uns-stehenden; worin die Knechtschaft
und die Niederlage liegt; denn in diesem findet auch das Verfehlen des Begehr-
ten statt, und das Gerathen ins Vermiedene; um dieses bewegt sich auch die
Begehrung der vernunftlosen Leidenschaften in uns, und ihre Tyrannei über
uns.“ (Simplikios 1867, 121, vgl. 267) Für die in JGB 9 sprechende Instanz liegt
das Tyrannische nun nicht länger in den „vernunftlosen Leidenschaften“, son-
dern darin, diese Leidenschaften als die das Leben eigentlich bestimmende
Macht mittels Vernunft in Schranken zu weisen. In JGB 188 wird dann ausge-
rechnet der „Stoicismus“ als Beispiel herangezogen, dass „jede Moral“ ein
„langer Zwang“ sei (KSA 5, 108, 7 f.) - und überdies eine „Tyrannei gegen die
,Natur“4 (KSA 5, 108, 3). Dort jedoch wird dieser Zwang als Grundvorausset-
zung höherer Kulturleistungen betrachtet, während JGB 9 die Selbsttäuschung
der stoischen Philosophen anprangert.
Die rhetorische Frage in JGB 9, ob denn der Stoiker nicht auch „ein Stück
Natur“ sei, macht mit der Hervorhebung des „Stücks“ darauf aufmerksam,
dass auch ein Mensch nur Bestandteil dieser Natur sei, über die er sich nicht
wirklich (womöglich als »vernünftiges Subjekt4) zu erheben vermag. Freilich
würde auch ein Stoiker die Frage mit Ja beantworten, bloß kultiviert er eben
ein entgegengesetztes Naturbild. Am Ende stößt in JGB 9 unvermittelt und un-
vermittelbar „Überzeugung“ auf „Überzeugung“ (vgl. JGB 8). Zur Wahrheitslie-
be vgl. NK 66, 9-12.
22, 22-28 Aber dies ist eine alte ewige Geschichte: was sich damals mit den
Stoikern begab, begiebt sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an
sich selbst zu glauben. Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann
nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille
zur Macht, zur „Schaffung der Welt“, zur causa prima.] Die beiden Schlusssätze
von JGB 9 erklären das bei den Stoikern Beobachtete zu einer generellen Ten-
denz jener Philosophien, die Selbstgewissheit demonstrieren, anstatt im Modus
des ständigen Selbstzweifels zu bleiben. Wie 22, 13 spielt auch 22, 25 auf den
 
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