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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0200
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180 Jenseits von Gut und Böse

kann, hat übrigens Lichtenberg mit einem einzigen Worte gesagt: Descartes
konnte mit Recht nur schliessen: Cogitat — ,Es denkt4.“ (Lange 1866, 122) In
den späteren Auflagen zitiert Lange dann direkt aus Lichtenbergs „Es denkt“ -
Aphorismus und ätzt gegen Descartes: „Am wenigsten ist der Schluß auf ein
Subjekt des Denkens begründet, wie Lichtenberg mit der treffenden Bemer-
kung hervorgehoben hat“ (Lange 1876-1877, 1, 229).
Der Passus 31, 5-12 geht aber weiter als bis zum Es, das als Unbestimmtes
in der landläufigen Descartes-Kritik an die Stelle des Ich tritt, indem die Passa-
ge auch dieses Es noch dem Verdacht unterwirft, bloß ein von der grammati-
schen Nötigung hervorgerufenes Gespenst zu sein. Diese Überlegungen schei-
nen wiederum an Einwände anzuknüpfen, die Teichmüller gegen Hermann
Lotzes Identifikation von Sein mit der „sich selbst vollziehende[n]
Thätigkeit“ (Teichmüller 1882, 79 nach Lotze 1879, 83) vorgebracht hat:
„Obgleich es Lotze dunkel gelassen hat, was man sich unter einer Thätigkeit,
die sich selbst vollzieht, näher denken soll, da die Thätigkeiten ja doch nur
durch auswärtige Sollicitation ausgelöst werden können, wie kein Körper sich
ohne äussere Veranlassung bewegen, kein Ich ohne Anlass wollen oder denken
wird, so erkennt man bei dieser Definition wohl sein Bestreben; das ,Wesen
oder die Idee4 der Idealisten mit dem ,Dasein4 der Realisten zu verschmelzen.
Uns kann es aber, abgesehen von den eben angedeuteten Schwierigkeiten,
dennoch Wunders nehmen, wo denn das Ich bleiben solle, wenn die Thätigkeit
sich erst selbst vollzieht; denn man darf dann ja nicht mehr sagen: Ich denke,
ich will, ich arbeite, sondern nur etwa: es denkt sich das Denken etwas, es will
sich das Wollen, es arbeitet sich das Arbeiten. Sollte denn wirklich das Ich
überflüssig oder sinnlos sein, welches wir herkömmlich als Subject des Satzes
gebrauchen?“ (Teichmüller 1882, 79) Bei Lotze fand Teichmüller auf diese (rhe-
torische) Frage keine Antwort, hielt er selbst doch nicht nur am grammati-
schen, sondern auch am erkenntnistheoretischen und ontologischen Subjekt
fest. Lotze hingegen hatte angeraten, darauf zu verzichten, „mit dem Sprachge-
brauch in durchgängiger Uebereinstimmung zu bleiben“ (Lotze 1879, 83).
Teichmüller wiederum versuchte, Lotzes Ansatz ad absurdum zu führen, indem
er unterstellte, dass mit der Idee einer Tätigkeit ohne Täter nicht nur unser
Sprachgefühl, sondern ebenfalls unser intuitives Wirklichkeitsverständnis ver-
letzt werde. N. scheint demgegenüber aus Teichmüllers Versuch einer reductio
ad absurdum Lotzescher Metaphysik gerade eine echte Denkalternative extra-
hiert zu haben, um probehalber die Subjekt-Prädikat-Beziehung aufs Sprachli-
che zu beschränken und daraus jeden Rückschluss auf die Verfassung der
Wirklichkeit zu unterbinden. Während Teichmüller gegen Lotze hielt, seine
Ontologie sei unplausibel, weil sie unseren Sprachgebrauch entwerte, probiert
N. aus, ob die Ontologie nicht bloß die Ausgeburt unseres (irreführenden)
 
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