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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0236
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216 Jenseits von Gut und Böse

der Scheiterhaufen.“ Das alles spielt auf eine Anekdote an, wonach der Frühre-
formator Jan Hus bei seiner Hinrichtung (am Konzil von Konstanz 1415) ange-
sichts einer alten Frau, die ihr Reisigbündel zum Scheiterhaufen trug, auf dem
er verbrannt wurde, „0 sancta simplicitas!“ ausgerufen haben soll. Zu N.s Zeit
waren der Ausruf und die damit verbundene Geschichte längst Gemeingut (sie-
he Büchmann 1882, 326). N. konnte der „Sancta Simplicitas“ in unterschiedli-
chen Kontexten begegnen: Mephisto beispielsweise beschwörte sie (Johann
Wolfgang von Goethe: Faust I, V. 3037) ebenso wie Ernest Renan (Renan 1866,
LI-LII) oder der für GT so wichtige Julius Leopold Klein (Klein 1866, 4/1, 376;
448; 458 u. bes. 473 f.).
41, 4-14 In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung lebt der Mensch!
Man kann sich nicht zu Ende wundern, wenn man sich erst einmal die Augen für
dies Wunder eingesetzt hat! Wie haben wir Alles um uns hell und frei und leicht
und einfach gemacht! wie wussten wir unsern Sinnen einen Freipass für alles
Oberflächliche, unserm Denken eine göttliche Begierde nach muthwilligen Sprün-
gen und Fehlschlüssen zu geben! — wie haben wir es von Anfang an verstanden,
uns unsre Unwissenheit zu erhalten, um eine kaum begreifliche Freiheit, Unbe-
denklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit, Heiterkeit des Lebens, um das Le-
ben zu geniessen!] Der Intuition, dass die Wirklichkeit nicht einfach, sondern
vielmehr überkomplex sei, und dass ihre Rezeption einen Akt radikaler „Ver-
einfachung“ darstelle, ging N. im Spätwerk auf den Spuren der von ihm rezi-
pierten erkenntniskritischen Philosophie öfter nach - bis hin zur Wendung in
GD Sprüche und Pfeile 4, der zufolge es eine zwiefache Lüge sein könne, dass
„alle Wahrheit [...] einfach“ sei (vgl. NK KSA 6, 59, 13 f.). Mit der Metaphorik
von Oberfläche und Heiterkeit klingen hingegen Überlegungen aus dem Früh-
werk, namentlich aus GT an, die mit dem Apollinischen einen Begriff für die
das Abgründige (Dionysische) künstlich-künstlerisch überdeckende Macht zur
Verfügung stellten, der in JGB 24 freilich nicht mehr benutzt wird. Als das
„Wunder“ gilt es nun, dass der Mensch diese „Vereinfachung“ überhaupt zu-
stande gebracht hat, die jedoch offensichtlich seinen Interessen dient, weil sie
als „Unwissenheit“ „Freiheit“, „Heiterkeit“ ermöglicht, ja erlaubt, „das Leben
zu geniessen“. JGB 24 setzt ein mit dem philosophischen Initial-Gestus des
Sich-Verwunderns, des Oaupa^eiv, mit dem nach Platon (Theaitetos 155d) und
Aristoteles (Metaphysik I 2, 982b) alle Philosophie beginnt. Aber JGB 24 voll-
zieht nicht den von der philosophischen Tradition vorgegebenen Weg nach,
der vom Unwissen und vom Staunen zum Wissen führt, denn der „feste [.] und
granitne[.] Grund[.] von Unwissenheit“ (41, 15) scheint bei allem Erkenntnis-
streben unerschütterlich zu bleiben. Oder zumindest wird nominell dieser An-
schein erweckt, während der Sprechende offenbar sehr wohl ein partielles Wis-
sen um die wahre Beschaffenheit der Welt besitzt - zumindest gibt er zu wissen
 
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