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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0275
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Stellenkommentar JGB 32, KSA 5, S. 50 255

Die Erläuterung, dass der „Imperativ“ der Selbsterkenntnis in der vormora-
lischen Phase noch nicht gegolten habe, während die moralische Phase immer-
hin den ,,erste[n] Versuch zur Selbst-Erkenntniss“ darstelle, verquickt die Mo-
ralgeschichte mit der Entwicklung der menschlichen Selbstverständigungsbe-
mühungen. Das mag überraschen, weil in anderen Texten N.s dem gerne
bemühten Losungswort des Orakels von Dephi: „Erkenne dich (selbst)“ (FvwOi
oeauTOv) misstraut oder ihm jedenfalls nicht jenes Vertrauen entgegenbracht
wird, das in der Philosophie seit Sokrates vorherrscht (vgl. NK 88, 5—9; NK KSA
1, 40, 6-10 u. NK KSA 6, 293, 29-32): Dass die Philosophie, wie Sokrates und
seine Nachfolger dachten, tatsächlich die Selbsterkenntnis des Menschen be-
fördern sollten und dass eine solche Selbsterkenntnis überhaupt wünschens-
wert ist, erscheint bei N. mitunter sehr zweifelhaft. In JGB 32 wird der nicht
zwingend erscheinende Bezug zwischen der Entwicklung menschlicher Selbst-
erkenntnis und der Moralgeschichte vielleicht deswegen so prominent ge-
macht, weil damit der Zuständigkeitsanspruch der Philosophie für die Moralge-
schichte erneuert werden kann. Inwiefern es von größerer Selbsterkenntnis
zeugt, eine Handlung nach ihrer „Herkunft“ statt nach ihren „Folgen“ zu beur-
teilen, wird in 50, 17-31 jedenfalls nicht restlos geklärt. Der Passus zehrt von
der Suggestion, „Herkunft“ habe irgendetwas mit dem „Selbst“ zu tun: Wer
sein Augenmerk auf die Herkunft richte, entdecke damit sich selbst. Gerhardt
2011, 172 resümiert den Ertrag von JGB 32 wie folgt: „Größer könnte eine Um-
wertung kaum sein. Man blickt nicht mehr auf das Ende, sondern auf den An-
fang der Handlung. Dabei gerät ganz von selbst der Handelnde in den Blick,
der sich eben dadurch selbst zum Problem macht.“
Die neue Herkunftsorientierung in der Bewertung einer Handlung lässt
sich mit angeblich globalen sozialen Entwicklungen parallelisieren, ohne darü-
ber konkrete Auskünfte gegen zu müssen: Eine „unbewusste Nachwirkung von
der Herrschaft aristokratischer Werthe“ habe nach der „Herkunft“ von Hand-
lungen fragen lassen, weil eben eine aristokratische Gesellschaftsform die Her-
kunft privilegiert. Wann und in welcher Weise „aristokratische Werthe“ ge-
herrscht haben, bleibt dabei vornehm ausgeblendet.
50, 17f. vormora lische Periode] Den Ausdruck „vormoralisch“ benutzt N.
nur ein einziges Mal, nämlich an dieser Stelle. Er ist zu N.s Zeit selten. Interes-
sant ist, dass er zeitgleich in der Übersetzung von William Mackintire Salters
Die Religion der Moral von 1885 verwendet wurde. Dort breitete der Verfasser
diverse Belege dafür aus, dass das „Gewissen“ eine menschheitsgeschichtlich
recht späte Erfindung sei. Diese „Beispiele aus den ,vormoralischen Zeiten4 und
die aus dem Wildenleben der Gegenwart“ würden allerdings den Anspruch auf
eine „Absolutheit der Moral“ nicht beeinträchtigen (Salter 1885, 122). „Mora-
lisch ist das, was wir unter dem Drange des Gedankens dessen thun, was wir
 
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