Stellenkommentar JGB 33, KSA 5, S. 51-52 261
etwa eines La Rochefoucauld) darauf, die Lauterkeit dieser Parteinahme für
die Anderen, die Preisgabe des Eigeninteresses zu problematisieren und den
Verdacht zu streuen, die scheinbare Uneigennützigkeit des Handelnden sei wo-
möglich doch insgeheim eigennützig. ,,[D]oppelt misstrauisch“ gibt sich der
Beobachter hier, weil es zwei- oder dreifach Profiteure jener „Gefühle“ zuguns-
ten anderer gibt, nämlich erstens die Nutznießer der vorgeblich uneigennützi-
gen Handlungen, zweitens der Handelnde mit seinen „Gefühlen“, und drittens
auch noch der „Zuschauer“, der sich am schönen Schein der Uneigennützigkeit
weiden kann und dabei selbst schöne „Gefühle“ hat. JGB 33 führt also Ethik
und Ästhetik in einer Profitkalkulation für alle Beteiligten zusammen und weist
damit die von Schopenhauer in der Preisschrift über die Grundlage der Moral
unternommene Analyse der „Grund-Triebfedern der menschlichen Hand-
lungen“ zurück, wonach es nur deren drei gebe: „Egoismus; der das eigene
Wohl will“, „Bosheit; die das fremde Wehe will“ und schließlich „Mitleid; wel-
ches das fremde Wohl will“ (Schopenhauer 1873-1874, 4/2, 210, vgl. NK KSA
6,173, 20-22). Nach Schopenhauer kann nur das Mitleid „Grundlage der Moral“
sein. JGB 33 verfolgt nun diese vermeintlich reine Triebfeder mit dem Argwohn,
dass sie durch versteckte Eigeninteressen höchst belastet sei.
Die Rede von der „interesselosen Anschauung“ in scheinbar zitierenden
Anführungszeichen weist zurück auf Kants Kritik der Urtheilskraft, wonach
echte ästhetische Urteile auf einem „Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles
Interesse“ gründen sollen (AA V, 211, vgl. NL 1883, KSA 10, 7[18], 243, 12-14
u. NK 154, 27-155, 13). Jedoch taucht die Formulierung einer „interesselosen
Anschauung“ bei ihm ebensowenig auf wie bei Schopenhauer, auch wenn
manche Formulierung, etwa in Die Welt als Wille und Vorstellung (2. Bd.,
3. Buch, Kapitel 30) daran anklingen: „die Schönheit, mit der die ersehnten,
poetischen Gegenstände und Situationen sich darstellen, beruht gerade auf der
reinen Objektivität, d. i. Interesselosigkeit, ihrer Anschauung, und würde daher
durch die Beziehung auf den eigenen Willen, welche der Jüngling schmerzlich
vermißt, sofort aufgehoben“ (Schopenhauer 1873-1874, 3, 428. Von N. mit
Randstrich und Ausrufezeichen markiert. Vgl. auch Bahnsen 1867, 1, 353, der
bei Schopenhauer vom „interesselosen Anschauen“ sprach). Wenn N. in NL
1871, KSA 7, 12[1], 364, 6 sowie in GT 5 (vgl. NK KSA 1, 42, 32-43, 6) von „inte-
resselose [m] Anschauen“ handelte, so stand dafür allerdings direkt nicht Scho-
penhauer, sondern Wagners Beethoven Pate: „Es ist nicht anders zu fassen,
als daß der im bildenden Künstler durch reines Anschauen zum Schweigen
gebrachte individuelle Wille im Musiker als universeller Wille wach
wird, und über alle Anschauung hinaus sich als solcher recht eigentlich als
selbstbewußt erkennt. Daher denn auch der sehr verschiedene Zustand des
conzipirenden Musikers und des entwerfenden Bildners; daher die so gründ-
etwa eines La Rochefoucauld) darauf, die Lauterkeit dieser Parteinahme für
die Anderen, die Preisgabe des Eigeninteresses zu problematisieren und den
Verdacht zu streuen, die scheinbare Uneigennützigkeit des Handelnden sei wo-
möglich doch insgeheim eigennützig. ,,[D]oppelt misstrauisch“ gibt sich der
Beobachter hier, weil es zwei- oder dreifach Profiteure jener „Gefühle“ zuguns-
ten anderer gibt, nämlich erstens die Nutznießer der vorgeblich uneigennützi-
gen Handlungen, zweitens der Handelnde mit seinen „Gefühlen“, und drittens
auch noch der „Zuschauer“, der sich am schönen Schein der Uneigennützigkeit
weiden kann und dabei selbst schöne „Gefühle“ hat. JGB 33 führt also Ethik
und Ästhetik in einer Profitkalkulation für alle Beteiligten zusammen und weist
damit die von Schopenhauer in der Preisschrift über die Grundlage der Moral
unternommene Analyse der „Grund-Triebfedern der menschlichen Hand-
lungen“ zurück, wonach es nur deren drei gebe: „Egoismus; der das eigene
Wohl will“, „Bosheit; die das fremde Wehe will“ und schließlich „Mitleid; wel-
ches das fremde Wohl will“ (Schopenhauer 1873-1874, 4/2, 210, vgl. NK KSA
6,173, 20-22). Nach Schopenhauer kann nur das Mitleid „Grundlage der Moral“
sein. JGB 33 verfolgt nun diese vermeintlich reine Triebfeder mit dem Argwohn,
dass sie durch versteckte Eigeninteressen höchst belastet sei.
Die Rede von der „interesselosen Anschauung“ in scheinbar zitierenden
Anführungszeichen weist zurück auf Kants Kritik der Urtheilskraft, wonach
echte ästhetische Urteile auf einem „Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles
Interesse“ gründen sollen (AA V, 211, vgl. NL 1883, KSA 10, 7[18], 243, 12-14
u. NK 154, 27-155, 13). Jedoch taucht die Formulierung einer „interesselosen
Anschauung“ bei ihm ebensowenig auf wie bei Schopenhauer, auch wenn
manche Formulierung, etwa in Die Welt als Wille und Vorstellung (2. Bd.,
3. Buch, Kapitel 30) daran anklingen: „die Schönheit, mit der die ersehnten,
poetischen Gegenstände und Situationen sich darstellen, beruht gerade auf der
reinen Objektivität, d. i. Interesselosigkeit, ihrer Anschauung, und würde daher
durch die Beziehung auf den eigenen Willen, welche der Jüngling schmerzlich
vermißt, sofort aufgehoben“ (Schopenhauer 1873-1874, 3, 428. Von N. mit
Randstrich und Ausrufezeichen markiert. Vgl. auch Bahnsen 1867, 1, 353, der
bei Schopenhauer vom „interesselosen Anschauen“ sprach). Wenn N. in NL
1871, KSA 7, 12[1], 364, 6 sowie in GT 5 (vgl. NK KSA 1, 42, 32-43, 6) von „inte-
resselose [m] Anschauen“ handelte, so stand dafür allerdings direkt nicht Scho-
penhauer, sondern Wagners Beethoven Pate: „Es ist nicht anders zu fassen,
als daß der im bildenden Künstler durch reines Anschauen zum Schweigen
gebrachte individuelle Wille im Musiker als universeller Wille wach
wird, und über alle Anschauung hinaus sich als solcher recht eigentlich als
selbstbewußt erkennt. Daher denn auch der sehr verschiedene Zustand des
conzipirenden Musikers und des entwerfenden Bildners; daher die so gründ-