262 Jenseits von Gut und Böse
verschiedene Wirkung der Musik und der Malerei. Hier tiefste Beschwichti-
gung, dort höchste Erregung des Willens: dieß sagt aber nichts anderes, als
daß hier der im Individuum als solchem, somit, im Wahne seiner Unterschie-
denheit von dem Wesen der Dinge außer ihm befangene Wille gedacht wird,
welcher eben erst im reinen, interesselosen Anschauen der Objekte über seine
Schranke sich erhebt; wogegen nun dort, im Musiker, der Wille sofort über alle
Schranken der Individualität hin sich einig fühlt: denn durch das Gehör ist
ihm das Thor geöffnet, durch welches die Welt zu ihm dringt, wie er zu ihr.“
(Wagner 1870, 13 = Wagner 1907, 9, 72 f.) In MA 11 (vgl. NK ÜK JGB 2) beginnt
bei N. die scharfe Absetzungsbewegung vom „interesselose[n] Anschauen“,
habe ,,[d]ie historische Philosophie“ doch die Einsicht befördert, dass es „we-
der ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen“
gebe (KSA 2, 23, 10 u. 16 f. u. 24-26). In einer Umarbeitung dieses Aphorismus
vom Januar 1888 ist das Verbalsubstantiv „Anschauen“ dem Abstraktum „An-
schauung“ gewichen: „interesselose Anschauung“ heißt es jetzt (KGW IV 4,
165), ebenso wie in JGB 33 und in GM III12, KSA 5, 364, 30 f., während JGB 207
gleichfalls in einer kritisch intendierten Verschränkung einer Ästhetik und ei-
ner Ethik der „Entselbstung und Entpersönlichung“ dagegen agitiert, dem „in-
teresselosen Erkennen4 [...] die höchsten Ehren zu geben“ (KSA 5, 134, 31-135,
5. Kants Ästhetik und ihre Adaption bei Schopenhauer thematisiert auch GM
III 6, KSA 5, 346-349). Das Ausweichen auf das Abstraktum „interesselose An-
schauung“ lässt sich bei N. erst nach seiner Lektüre von Olga Plümachers
Schrift Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart belegen, die sich dieser
Wendung gleichfalls in polemischer, allerdings anti-optimistischer Absicht be-
dient: „wer aber bloss zu dem Zwecke sich ein harmonisches, optimistisches
Weltbild zu sichern, sein Auge einseitig auf die interesselose Anschauung be-
schränken und sein anderweitiges Gefühlsleben kühl setzen will, der verzichtet
auf zwei Drittheile des Reichthums seines Seelenlebens“ (Plümacher 1884,
232). Freilich ist es gut möglich, dass N. das Abstraktum auch ohne Plümachers
Hilfe gebildet hat.
52, 6 die Entmännlichung der Kunst] Woran sich diese „Entmännlichung der
Kunst“ dingfest machen lässt, wird nicht recht klar, außer eben daran, „inte-
resselose[r] Anschauung“ (52, 5) zu huldigen. Das kann bedeuten, dass in die-
ser Kunst auf jedes Urteil verzichtet wird - dass sie also realistisch oder natura-
listisch bloß abbildet, was in der Wirklichkeit vorzufinden ist - oder auch, dass
sie sich dekadent im Belanglosen und Unentschiedenen verzettelt. „Entmännli-
chung“ und „entmännlichen“ sind Worte, die in Grimms Deutschem Wörter-
buch fehlen und im 19. Jahrhundert nur selten anzutreffen sind. Womöglich
klingt „Entmännlichung“ ein bisschen weniger brachial als »Entmannung4, das
deutsche Pendant für Kastration. Dass die Kunst entmännlicht werde, wie 52, 6
verschiedene Wirkung der Musik und der Malerei. Hier tiefste Beschwichti-
gung, dort höchste Erregung des Willens: dieß sagt aber nichts anderes, als
daß hier der im Individuum als solchem, somit, im Wahne seiner Unterschie-
denheit von dem Wesen der Dinge außer ihm befangene Wille gedacht wird,
welcher eben erst im reinen, interesselosen Anschauen der Objekte über seine
Schranke sich erhebt; wogegen nun dort, im Musiker, der Wille sofort über alle
Schranken der Individualität hin sich einig fühlt: denn durch das Gehör ist
ihm das Thor geöffnet, durch welches die Welt zu ihm dringt, wie er zu ihr.“
(Wagner 1870, 13 = Wagner 1907, 9, 72 f.) In MA 11 (vgl. NK ÜK JGB 2) beginnt
bei N. die scharfe Absetzungsbewegung vom „interesselose[n] Anschauen“,
habe ,,[d]ie historische Philosophie“ doch die Einsicht befördert, dass es „we-
der ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen“
gebe (KSA 2, 23, 10 u. 16 f. u. 24-26). In einer Umarbeitung dieses Aphorismus
vom Januar 1888 ist das Verbalsubstantiv „Anschauen“ dem Abstraktum „An-
schauung“ gewichen: „interesselose Anschauung“ heißt es jetzt (KGW IV 4,
165), ebenso wie in JGB 33 und in GM III12, KSA 5, 364, 30 f., während JGB 207
gleichfalls in einer kritisch intendierten Verschränkung einer Ästhetik und ei-
ner Ethik der „Entselbstung und Entpersönlichung“ dagegen agitiert, dem „in-
teresselosen Erkennen4 [...] die höchsten Ehren zu geben“ (KSA 5, 134, 31-135,
5. Kants Ästhetik und ihre Adaption bei Schopenhauer thematisiert auch GM
III 6, KSA 5, 346-349). Das Ausweichen auf das Abstraktum „interesselose An-
schauung“ lässt sich bei N. erst nach seiner Lektüre von Olga Plümachers
Schrift Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart belegen, die sich dieser
Wendung gleichfalls in polemischer, allerdings anti-optimistischer Absicht be-
dient: „wer aber bloss zu dem Zwecke sich ein harmonisches, optimistisches
Weltbild zu sichern, sein Auge einseitig auf die interesselose Anschauung be-
schränken und sein anderweitiges Gefühlsleben kühl setzen will, der verzichtet
auf zwei Drittheile des Reichthums seines Seelenlebens“ (Plümacher 1884,
232). Freilich ist es gut möglich, dass N. das Abstraktum auch ohne Plümachers
Hilfe gebildet hat.
52, 6 die Entmännlichung der Kunst] Woran sich diese „Entmännlichung der
Kunst“ dingfest machen lässt, wird nicht recht klar, außer eben daran, „inte-
resselose[r] Anschauung“ (52, 5) zu huldigen. Das kann bedeuten, dass in die-
ser Kunst auf jedes Urteil verzichtet wird - dass sie also realistisch oder natura-
listisch bloß abbildet, was in der Wirklichkeit vorzufinden ist - oder auch, dass
sie sich dekadent im Belanglosen und Unentschiedenen verzettelt. „Entmännli-
chung“ und „entmännlichen“ sind Worte, die in Grimms Deutschem Wörter-
buch fehlen und im 19. Jahrhundert nur selten anzutreffen sind. Womöglich
klingt „Entmännlichung“ ein bisschen weniger brachial als »Entmannung4, das
deutsche Pendant für Kastration. Dass die Kunst entmännlicht werde, wie 52, 6