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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0286
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266 Jenseits von Gut und Böse

für gäbe es, dass es nicht fortführe, zu thun, was es immer gethan hat?] In NL
1885, KSA 11, 40[20], 638, 7-13 (entspricht KGW IX 4, W I 7, 69, 8-18) heißt es
(das in NK 52, 16-22 mitgeteilte Notat fortsetzend): „Schon insofern wir doch,
nach der Meinung des Cartesius, wirklich Realität hätten, müßten wir ja als
Realität an jenem betrügerischen täuschenden Grunde der Dinge und seinem
Grund-Willen irgendwie Antheil haben: — genug, ,ich will nicht betrogen wer-
den4 könnte das Mittel eines tieferen feineren gründlicheren Willens sein, der
gerade das Umgekehrte wollte: nämlich sich selber betrügen.“ Die Wendung
„advocatus dei“ ist bei N. sonst nicht zu belegen; die wenigen Nachlassstellen,
die demgegenüber den „advocatus diaboli“ bemühen, sind mit einer (unten
mitgeteilten) Ausnahme hier sachlich nicht relevant. Eigentlich ist advocatus
dei, „Anwalt Gottes“ die populäre Bezeichnung für den Fürsprecher in einem
katholischen Selig- oder Heiligsprechungsprozess, dem der advocatus diaboli
(„Anwalt des Teufels“) entgegensteht, der die Argumente gegen die Beatifikati-
on oder Kanonisation vertritt. Hier liegt die Pointe darin, dass der Metaphysi-
ker, wie Descartes es noch explizit tat, insgeheim einen gütigen, verlässlichen,
uns keine betrügerische Wirklichkeit zumutenden Gott verteidigen will und
deshalb den menschlichen Geist für den Irrtum verantwortlich macht, so wie in
der christlichen Theologie nicht Gott für die Übel in der Welt zur Rechenschaft
gezogen werden kann, sondern vielmehr der (ursprünglich) freie menschliche
Wille.
Die Passage 52, 22-30 erscheint allerdings ungeeignet, um bei N. „eine Re-
habilitierung und Wiedergewinnung des Religiösen“ wie folgt geltend zu ma-
chen: „So wird die Annahme von der »Irrthümlichkeit der Welt4, also der Ge-
danke, dass es nichts gibt, das in Wahrheit zugänglich ist, mit der Ablehnung
eines »wesenhaften Gegensatzes] von ,wahr4 und »falsch44 bezweifelt. Das wie-
derum gilt, in offensichtlicher Anspielung auf Descartes, als Einwand eines
»advocatus dei4 (JGB 34) gegen die Annahme eines bösen, jede vermeintliche
Erkenntnis täuschenden Geistes. Wenn es den täuschenden Geist nicht gibt
und die Welt stattdessen auf mannigfach gestufte Weise zugänglich ist, in ei-
nem Spiel von Verbergung und Offenbarkeit, das der Mensch nicht macht, so
spricht das, wie Nietzsche suggerieren will, für einen in Verbergung und Offen-
barkeit spielenden Gott.“ (Figal 2008, 54) Figal blendet aus, dass N. in JGB 34
keineswegs selbst als advocatus dei auftritt, sondern dies denjenigen Vorbehal-
ten ist, die an der „Falschheit der Welt“ Anstoß nehmen. Dagegen legt das
Ende von JGB 34 nahe, dass im Gegenteil der Glaube an einen Gott für eine
durch die grammatische Struktur der Sprache hervorgebrachte Fiktion zu hal-
ten sei, siehe NK 54, 3-11. Daher scheint auch im Blick auf den Gott der Meta-
physiker eher eine andere Selbstbeschreibung zu greifen: „Ich bin der advoca-
tus diaboli und der Ankläger Gottes.“ (NL 1882, KSA 10, 1[65], 27, 1).
 
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