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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0297
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Stellenkommentar JGB 36, KSA 5, S. 54 277

16; zu dem hinter Müller-Lauters und Heideggers Ansatz stehenden, für deut-
sche akademische Philosophen offenbar existenziellen Bedürfnis einer Syste-
matisierung N.s siehe Sommer 2012d, 44 u. ö.) Den „Willen zur Macht“ hat die
rührige Forschung übrigens längst vor den wirkmächtigen Großinterpretatio-
nen des 20. Jahrhunderts zum „Mittelpunkte der Nietzscheschen Weltanschau-
ung“ erklärt (Klepl 1901, 22). Streckenweise lässt sich der Eindruck schwer ver-
meiden, die einflussreichen Interpretationen durch deutsche Philosophen
stünden eher unter dem Eindruck solcher früher Urteile als unter dem Eindruck
der Lektüre von N.s Werken. Auch die vereinten philosophischen Interpretati-
onsanstrengungen contre texte können das Faktum nicht zum Verschwinden
bringen, dass JGB 36 weder eine Generaltheorie noch eine verbindliche Verkün-
digung des Willens zur Macht als Weltformel bietet. Die von N. durch Publikati-
on autorisierten Aussagen über den Willen zur Macht stehen unter Vorbehalt.
JGB 36 unternimmt ein Denkexperiment, das eine JGB 19 entgegengesetzte Vo-
raussetzung macht (vgl. NK ÜK JGB 19), nämlich, dass es nicht nur einen Wil-
len gebe, sondern, dass dieser Wille auch etwas Elementares, ja das Allerur-
sprünglichste sei. Maudemarie Clark hält zwar JGB 36 für den einzigen Text in
allen publizierten Werken N.s, der ein detailliertes Argument für eine kosmolo-
gische Lehre vom Willen zur Macht entfalte (Clark 1990, 212). Dann gibt sie
aber mit Recht zu bedenken, dass N. beide in hypothetischer Form vorgebrach-
ten Prämissen, nämlich erstens allein die „Welt der Begierden und Leiden-
schaft“ sei „real,gegeben“4, und zweitens die Welt sei in Begriffen der Willens-
kausalität zu erklären, von seinen sonstigen Verlautbarungen her rundweg ab-
lehnen müsste (ebd., 213 f.). Zur philosophischen Interpretation von JGB 36 vgl.
z. B. Allison 2001, 120 f. u. Steinmann 2001, 206-208.
Eine direkte Vorarbeit zu JGB 36 findet sich schließlich im Heft W I 7a vom
Sommer 1885: „Sollte nicht es genügen, uns als ,Kraft4 eine Einheit zu denken,
in der Wollen Fühlen und Denken noch gemischt und ungeschieden sind? Und
die organischen Wesen als Ansätze zur Trennung, so daß die organischen
Funktionen sämmtlich noch in jener Einheit beieinander sind, also Selbst-regu-
lirung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoffwechsel? Zuletzt ist ,real4
nichts gegeben als Denken und Empfinden und Triebe: ist es nicht erlaubt zu
versuchen, ob dies Gegebene nicht ausreicht, die Welt zu construiren? Ich
meine nicht als Schein: sondern als so real, wie eben unser Wollen Fühlen
Denken ist — aber als primitivere Form desselben. Die Frage ist zuletzt: ob
wir den Willen wirklich als wirkend anerkennen? Thun wir dies, so kann er
natürlich nur auf etwas wirken, was seiner Art ist: und nicht auf ,Stoffe4.
Entweder muß man alle Wirkung als Illusion auffassen (denn wir haben
uns die Vorstellung von Ursache und Wirkung nur nach dem Vorbilde unseres
Willens als Ursache gebildet!) und dann ist gar nichts begreiflich: oder man
 
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