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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0317
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Stellenkommentar JGB 40, KSA 5, S. 57 297

ihren „Gegensatz“ als „rechte Verkleidung“ (57, 28). Das tut nur der christli-
che - indem er sich dauerhaft in seinem Gegensatz inkarniert. Er bleibt wahrer
Gott und wird doch wahrer Mensch in einem.
57, 29-31 Eine fragwürdige Frage: es wäre wunderlich, wenn nicht irgend ein
Mystiker schon dergleichen bei sich gewagt hätte.] Tatsächlich haben mystisch
gestimmte Theologen darüber nachgedacht, beispielsweise der berühmte würt-
tembergische Pietist und Theosoph Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) in
seinem Biblischen und Emblematischen Wörterbuch: „Bayle und Voltaire haben
sich sehr vergriffen, daß sie wegen der Sünden Davids das Zeugniß Gottes ver-
läugnen. Es steckt aber eine geheime Sache dahinter: nämlich Gott schämet
sich nicht, seinen Sohn aus dem hurischen Stamm Juda und Thamar gebären
zu lassen. Juda hatte drei Söhne mit dem cananitischen Weib erzeugt, aber
der Bund Gottes wollte nicht auf das cananitische /100/ Weib und ihre Kinder
losgehen, sondern eröffnete sich in dieser Hurerei des Juda mit der Thamar.
Gott offenbarte die Linie seines Bundes darum in dieser Hurerei, daß der Bund
der Gnade dem Zorn Gottes über die Sünden entgegenstünde“ (Oetinger 1849,
99 f., mit der originalen Orthographie von 1776 in Oetinger 1999, 1, 77).
57, 31-58,13 Es giebt Vorgänge so zarter Art, dass man gut thut, sie durch eine
Grobheit zu verschütten und unkenntlich zu machen; es giebt Handlungen der
Liebe und einer ausschweifenden Grossmuth, hinter denen nichts räthlicher ist,
als einen Stock zu nehmen und den Augenzeugen durchzuprügeln: damit trübt
man dessen Gedächtniss. Mancher versteht sich darauf, das eigne Gedächtniss
zu trüben und zu misshandeln, um wenigstens an diesem einzigen Mitwisser sei-
ne Rache zu haben: — die Scham ist erfinderisch. Es sind nicht die schlimmsten
Dinge, deren man sich am schlimmsten schämt: es ist nicht nur Arglist hinter
einer Maske, — es giebt so viel Güte in der List. Ich könnte mir denken, dass ein
Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob und rund
wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass durch’s Leben rollte: die Fein-
heit seiner Scham will es so.] Entgegen der Erwartung, die an landläufige
Schambegriffe herangetragen wird, wonach man sich nämlich einer bösen Tat
oder eines schlimmen Charakterzuges zu schämen habe, wird hier die Scham
auf Taten der „Güte“, der „Liebe“, der „Grossmuth“ bezogen. Einerseits mag
man sich ihrer schämen, weil der Adressat ihrer eigentlich nicht würdig ist.
Genau das ist Gottes Schamproblem, das in NK 57, 27-29 mit dem Hebräerbrief
namhaft gemacht wurde. Der Handelnde stellt sich in JGB 40 - unbescheiden
blasphemisch - also in die direkte Handlungsgefolgschaft des menschgewor-
denen Gottes. Andererseits mag man sich ihrer aber auch schämen, weil all
diese gegenüber Dritten praktizierten Tugenden wie „Güte“, „Liebe“ oder
„Grossmuth“ mit dem Selbstbild nicht kongruieren, das zum Beispiel nur Uner-
 
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