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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0320
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300 Jenseits von Gut und Böse

zum Verzicht geben soll, sind nicht Proben vor einem Publikum, sondern vor
sich selbst. Dies wiederum bedeutet, dass dem Philosophen nicht ein tatsächli-
cher Verzicht auf die genannten Güter - „Person[en]‘‘ (59, 3), „Vaterland[.]“ (59,
5), „Mitleiden“ (59, 8), „Wissenschaft“ (59,11), ,,eigne[.] Loslösung“ (59,13) und
,,eigne[.] Tugenden“ (59, 16) - abverlangt wird, sondern ein mentaler Verzicht:
Er muss sie wegdenken können. Dazu passt die „praemeditatio futurorum ma-
lorum“ (Marcus Tullius Cicero: Tusculanae disputationes III 29), die gedankli-
che Vorwegnahme künftiger Übel als das stoische Mittel der Wahl, sich geistig
von all dem frei zu machen, was man gegenwärtig fälschlicherweise für wert-
voll und unentbehrlich hält, um nach diesem Prozess der geistigen Loslösung
einzusehen, dass einem äußerliche Übel eigentlich nichts anhaben können.
Auch da gilt der Schlusssatz von JGB 41: „Man muss wissen, sich zu be-
wahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit.“ (59, 21 f.) Dazu notierte Karl
Jaspers an den Rand: „Wer ist das?“ (Nietzsche 1923, 62).
Dass es nach JGB 40 gerade Masken sind, die dem Denker bei der Selbstge-
staltung gegenüber einer tendenziell feindlichen Umwelt nicht nur dienlich,
sondern geradezu unentbehrlich sind, wirkt im Horizont der stoischen Theorie-
bildung keineswegs zufällig, hatte doch der »mittlere4 Stoiker Panaitios von
Rhodos (180-110 v. Chr.) eine eigentliche Rollenethik, nämlich als Lehre von
den vier personae oder Masken entfaltet, die bei Cicero überliefert ist (Marcus
Tullius Cicero: De officiis 1107-151). Die erste Rolle oder Maske ist die, die dem
Menschen als Gattungswesen von Natur aus zukommt, seine Vernunft, durch
die er sich von den Tieren unterscheidet (ebd., I 107). Die zweite Rolle oder
Maske besteht in der individuellen Ausstattung, der angeborenen Eigenart
(ebd., 1109 f.). Die dritte Rolle oder Maske wird einem vom Zufall von Ort und
Zeit auferlegt (ebd., I 115). Die vierte Rolle ergibt sich schliesslich aus dem
Spielraum für unsere eigenen Entscheidungen. Die bei N. genannten Masken
entziehen sich hingegen solchen Schematismen; noch weniger dachte er, wie
Panaitios und Cicero, daran, diese Masken einer moralischen Pflicht dienstbar
zu machen. Stattdessen benutzen und radikalisieren JGB 40 und JGB 41 stoi-
sche Denkfiguren, um einerseits die unverminderte Lebensrelevanz philoso-
phischer Reflexion aufzuweisen, andererseits aber auch zu demonstrieren,
dass künftiges Philosophieren weit über das Hergebrachte hinauszugehen hat.
Wofür man freilich diese Opfer des Verzichts letztlich erbringen soll, bleibt
vage. Dennoch ist JGB 41 mit seinem ratgeberartigen Charakter und seinem
Verzicht sowohl auf philosophische Verrätselung als auch auf jähe gedankliche
Wendungen der populären stoischen Erbauungsliteratur auch formal ver-
wandt: Die Paränese steht dafür Pate.
59, 3-5 Nicht an einer Person hängen bleiben: und sei sie die geliebteste, — jede
Person ist ein Gefängniss, auch ein Winkel.] Allzu enge Bindungen an Mitmen-
 
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