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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0325
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Stellenkommentar JGB 43, KSA 5, S. 60 305

43.
KSA 14, 353 f. teilt die folgende Vorstufe mit: „Wir sind keine Dogmatiker; es
geht uns wider den Stolz, daß unsre Wahrheit gar noch eine Wahrheit für Je-
dermann sein sollte: was der Hinter-Sinn aller dogmatischen Bestrebungen ist.
Wir lieben es, mit vielerlei Augen in die Welt zu sehen, auch mit den Augen
der Sphinx; es gehört zu den schönen Schaudern, um welcher willen es sich
lohnt Philosoph zu sein, daß ein Ding, um die Ecke gesehen, ganz anders aus-
sieht als man je vermuthen durfte, so lange man es mit geraden Blicken und
auf geraden Wegen sucht. Überdieß scheint es, daß der feierliche Ernst, die
linkische Zudringlichkeit, mit denen bisher alle Dogmatiker auf die Wahrheit
zugegangen sind, nicht die geschicktesten Mittel waren, um dieses Frauenzim-
mer für sich einzunehmen: gewiß ist dieß, daß sie sich nicht hat einnehmen
lassen - und alle Art Dogmatik steht heute in betrübter und muthloser Haltung
da. Wenn sie überhaupt noch steht!“ (Mit N.s Korrekturen findet sich der Text
auch in KGW IX 4, W I 6, 3, 15-42, vgl. eine frühere Fassung in KGW IX 1, N
VII1,18-17.) Auch in der diktierten Fassung von Dns Mp XVI, Bl. 42r, die Vorar-
beiten zu JGB 42, JGB 43 u. JGB Vorrede verquickt (Röllin 2012, 216 f.), treten
die „Philosophen der Zukunft“ ausdrücklich als „wir“ auf, scheinen also in der
Person des Sprechenden bereits vorweggenommen zu sein - und im Übrigen
den Lesern ein Angebot zur Identifikation zu machen. In der Druckfassung
von JGB 43 bleibt das „Wir“ vollkommen im Verborgenen - die „kommenden
Philosophen“ (60, 1 f.) werden ganz in die Zukunft vertagt, so dass der Schrei-
bende, der aber auch nicht als „Ich“ in Erscheinung tritt (die in den Vorfassun-
gen außerhalb von Anführungszeichen stehende Äußerung über „Mein Ur-
theil“ - 60, 8 - wird jetzt durch Anführungszeichen quasi als Zitat auf Distanz
gebracht), der Einzige bleibt, der kraft divinatorischer Kritik Auskünfte über
diese Philosophen der Zukunft zu geben vermag und sich entsprechend das
Recht der Exklusivvermarktung vorbehält. Nicht Einladung zur Identifikation,
sondern Neugierde-Wecken durch Verrätselung ist die Strategie der zusam-
mengehörenden Abschnitte JGB 42 bis 44.
60, 2-4 Sind es neue Freunde der „Wahrheit“, diese kommenden Philosophen?
Wahrscheinlich genug: denn alle Philosophen liebten bisher ihre Wahrheiten.]
Ironisch abgeschattet wird das anhaltende Wahrheitsinteresse der Philosophen
mit dem Adverb ,,[w]ahrscheinlich“, das die Antwort auf die Frage einleitet
und den metaphysisch umfassenden Anspruch auf Wahrheit mit bestimmtem
Artikel kontaminiert - ein Anspruch, der sich im Plural und in der Possessiv-
Indizierung „ihre Wahrheiten“ endgültig auflöst. Das Argument, mit dem be-
gründet wird, weshalb es ,,[w]ahrscheinlich genug“ sei, dass auch die „kom-
menden Philosophen“ Wahrheitsfreunde wären, ist ein traditionalistisches -
 
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