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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0354
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334 Jenseits von Gut und Böse

Aufnahme der christlichen Infektion im Norden abgegeben haben: — in Frank-
reich kam das christliche Ideal, soweit es nur die blasse Sonne des Nordens er-
laubt hat, zum Ausblühen.] Dass der Norden und der Süden Europas für Reli-
gion und namentlich für das Christentum anders disponiert seien - und der
Norden es letztlich nur oberflächlich akkulturiert habe, wird fast zeitgleich zu
JGB 48 in FW 350, KSA 3, 586, 12-24 (vgl. dazu Stegmaier 2012, 225-227) be-
hauptet. In JGB 48 schrieb N. in diese Überlegungen noch ausdrücklich den
Begriff der „Rasse“ hinein, was manchen Interpreten wiederum zur falschen
Vermutung Anlass gegeben hat, hier habe N. direkt auf Joseph Arthur de Gobi-
neaus Essai sur l’inegalite des races humaines (1853-1855) zurückgegriffen
(Young 1968, 277). Eine solche Rezeption ist freilich, wie Schank 2000, 436
gezeigt hat, sehr unwahrscheinlich. Die Argumentation in JGB 48 zielt auf den
Nachweis ab, dass das Christentum bei den barbarischen „Nordländern“ - und
im Text heißt es ausdrücklich identifikatorisch „Wir Nordländer“ (69, 16) -
nicht in die Tiefenschichten des Volkscharakters eingedrungen sei, und sie also
im Prozess der Säkularisierung bloß einen künstlichen Anstrich abstreiften,
während dasselbe Christentum in den südlichen Ländern so stark in die Tiefe
gewirkt habe, dass noch jede Form des Atheismus als travestierte Religiosität
erscheint, was anschließend an Auguste Comte, Charles-Augustin Sainte-Beu-
ve und Ernest Renan demonstriert werden soll. Diese Argumentation sucht auf
der Grundlage einer vermeintlich biologisch-klimatologischen Grunddifferenz
zwischen Nord- und Südeuropäern die Haltung des sprechenden, sich selbst
befreienden Geistes zu beglaubigen, religiös unmusikalisch zu sein: Als Nord-
länder scheint es dann quasi natürlich, dass er den Tod des christlichen Gottes
(im Unterschied zum „tollen Menschen“ in FW 125) kalt und ungerührt diag-
nostiziert. Die in JGB 48 implizierte Behauptung, dass die Nordeuropäer,
sprich: die Deutschen, letztlich nicht ernstlich vom Christentum infiziert wor-
den sind, steht in starkem Kontrast zu den einschlägigen Äußerungen in AC 60
und 61, wo die Deutschen mit ihrer Reformation dafür verantwortlich gemacht
werden, dass man das Christentum bisher nicht losgeworden sei, denn nie-
mand habe es so ernst genommen wie sie (vgl. dazu ausführlich NK 6/2,
S. 296-311). Während in JGB 48 die Zugehörigkeit zu „Barbaren-Rassen“ (69,
16 f.) dagegen immunisiert, im Herzen christlich zu werden, gilt in AC 22 das
Christentum gerade als ein Mittel, „Barbaren“ innerlich krank zu machen,
nämlich ihre aggressiven Instinkte gegen sich selbst zu richten (vgl. NK 6/2,
S. 119-122). In JGB 48 staffierte N., so Schank 2000, 95, einen Gedanken aus,
den bereits Schopenhauer im Dialog „Ueber Religion“ seiner Parerga und Para-
lipomena formuliert hat: „So z. B. sehn wir die katholische Geistlichkeit von
der Wahrheit aller Sätze ihrer Kirche vollkommen überzeugt, und eben so die
protestantische von der der ihrigen, und Beide vertheidigen die Satzungen ih-
 
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