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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0377
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Stellenkommentar JGB 56, KSA 5, S. 74 357

deutlich, dass hier über etwas erst Anbrechendes, Künftiges gesprochen wird.
Diese Geschichtsprophetie, die durchaus performativ sein will und also den
Charakter einer self-fulfilling prophecy hat, erweckt - auch durch das Vergan-
genheitstempus - den Eindruck geschichtlicher Notwendigkeit, der durch das
in Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie seit dem Hochmittelalter
unentwegt variierte Drei-Stufen-Schema (vgl. Sommer 2006c) noch verstärkt
wird. Wer in JGB 55 keine ironische Persiflage angemaßter Geschichtsprophetie
verborgen findet, sondern den Abschnitt für bare Münze nimmt, wird dagegen
feststellen müssen, dass das Vergangene (einmal gesetzt, die Religionsge-
schichte des Opfers sei tatsächlich so verlaufen, wie N. mit Spencer unterstellt)
keinen zwingenden Schluss auf das Künftige erlaubt. Überdies bleibt unklar,
welches Gewicht demnach dem Opfer im Gefüge des Religiösen insgesamt zu-
kommt - ob es wirklich das bestimmende Motiv ist oder nicht. Wenn nicht,
könnte die Entwicklungslogik des Opfers von anderen Faktoren konterkariert
werden. Auch die christliche Opfertheologie hat von der Überzeugung gelebt,
das Opfer - Christi Tod am Kreuz - sei eine Unwiderstehlichkeit, die die Welt-
geschichte fortan bestimmen werde. Die Opfer-Antitheologie von JGB 55 hält -
pro forma, augenzwinkernd - den Glauben an die Unwiderstehlichkeit des Op-
fers aufrecht. Jedoch kommt diese Opfer-Antitheologie gegen die Kontingenz
womöglich ebensowenig an wie die christliche Opfertheologie: Opferung ist
nur einer von zahllosen geschichtsbestimmenden Faktoren.

56.
Die Vorstufe zu JGB 56 in W I 3 führte den Titel: „Circulus vitiosus deus“ (KSA
14, 354).
74, 23-75,10 Wer, gleich mir, mit irgend einer räthselhaften Begierde sich lange
darum bemüht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken und aus der halb
christlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, mit der er sich diesem
Jahrhundert zuletzt dargestellt hat, nämlich in Gestalt der Schopenhauerischen
Philosophie; wer wirklich einmal mit einem asiatischen und überasiatischen Auge
in die weltverneinendste aller möglichen Denkweisen hinein und hinunter geblickt
hat — jenseits von Gut und Böse, und nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer,
im Bann und Wahne der Moral —, der hat vielleicht ebendamit, ohne dass er es
eigentlich wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht: für das
Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich
nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, son-
dern es, so wie es war und ist, wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus,
unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und
 
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