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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0387
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Stellenkommentar JGB 60, KSA 5, S. 78-79 367

354 mitgeteilten Vorstufe aus N VII2 heißt es stattdessen: „daß man Gott wider-
legen kann, den Teufel aber nicht“. Diese Idee wird aber auch bereits in
JGB 37 sowie in weiteren Nachlass-Texten artikuliert, vgl. NK 56, 2-5.
78, 23-32 Die Frömmigkeit, das „Leben in Gott“, mit diesem Blicke betrachtet,
erschiene dabei als die feinste und letzte Ausgeburt der Furcht vor der Wahr-
heit, als Künstler-Anbetung und -Trunkenheit vor der consequentesten aller Fäl-
schungen, als der Wille zur Umkehrung der Wahrheit, zur Unwahrheit um jeden
Preis. Vielleicht, dass es bis jetzt kein stärkeres Mittel gab, den Menschen selbst
zu verschönern, als eben Frömmigkeit: durch sie kann der Mensch so sehr Kunst,
Oberfläche, Farbenspiel, Güte werden, dass man an seinem Anblicke nicht mehr
leidet.] Wer religiöse Menschen als Künstler identifiziert, macht sie damit zu
(besonders gewieften) Erfindern, deren imaginative Welten ebenso gegen die
Wirklichkeit konzipiert sind wie diejenigen der insgeheim weltverneinenden
Künstler. Für die Philosophen der Zukunft ist das religiöse Leben gerade keine
Option mehr.
Die Formel „Leben in Gott“ ist in der Erbauungsliteratur und in der Theolo-
gie (vgl. z. B. die Fünfte Rede aus Schleiermachers Ueber die Religion - Schleier-
macher 1958, 163) weit verbreitet, bei N. jedoch ein Hapax legomenon.
60.
79, 2-13 Den Menschen zu lieben um Gottes Willen — das war bis jetzt das
vornehmste und entlegenste Gefühl, das unter Menschen erreicht worden ist.
Dass die Liebe zum Menschen ohne irgendeine heiligende Hinterabsicht eine
Dummheit und Thierheit mehr ist, dass der Hang zu dieser Menschenliebe erst
von einem höheren Hange sein Maass, seine Feinheit, sein Körnchen Salz und
Stäubchen Ambra zu bekommen hat: — welcher Mensch es auch war, der dies
zuerst empfunden und „erlebt“ hat, wie sehr auch seine Zunge gestolpert haben
mag, als sie versuchte, solch eine Zartheit auszudrücken, er bleibe uns in alle
Zeiten heilig und verehrenswerth, als der Mensch, der am höchsten bisher geflo-
gen und am schönsten sich verirrt hat!] Dass nach einer verbreiteten Auffassung
des Christentums Menschenliebe nur um der Gottesliebe willen geübt werden
soll, reflektierte N. schon in NL 1876/77, KSA 8, 23[154], 460 f., wo die Unverein-
barkeit der „Richtschnur des Wortes: ,liebe den Nächsten um Gottes willen“4
mit „höhere[r] Nützlichkeit“ und „ökumenische[n] Zwecke[n]“ (KSA 8, 460,
20-25) festgestellt, aber keineswegs positiv verbucht wurde: „Und was heißt es
überhaupt: ,ich liebe den Mitmenschen um Gottes Willen!4 Ist es mehr als wenn
jemand sagt ,ich liebe alle Polizeidiener, um der Gerechtigkeit willen4 oder was
ein kleines Mädchen sagte: ,ich liebe Schopenhauer, weil Großvater ihn gern
hat: der hat ihn gekannt4?“ (KSA 8, 461, 3-8) Damals erspähte N. in diesem
 
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