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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0410
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390 Jenseits von Gut und Böse

ment 1818, 4), während die Scham eine Folge des Essens der verbotenen Frucht
vom Baum der Erkenntnis darstellt (vgl. Genesis 3, 7). Davor gab es keine
Scham: „Und sie waren beide nackend, der Mensch und sein Weib; und schä-
meten sich nicht.“ (Genesis 2, 25 - Die Bibel: Altes Testament 1818, 3) JGB 65
kehrt diesen Ablauf um: Die Überwindung der Scham wird als Movens des
Erkenntnisstrebens ausgegeben (vgl. z. B. Burnham 2007, 102). Einerseits
scheint dies N.s eigenes Erkentnisstreben zu charakterisieren, insofern sich da-
rin der „Muth zum Verbotenen“ (AC Vorwort, KSA 6, 167, 16) ausdrückt,
ein Mut, der nicht vor antrainierter Scham angesichts überkommenener, aber
obsoleter Wahrheiten haltmacht. N.s Erkenntnismut scheint also die Scham-
überwindung zu implizieren. Andererseits zeigt sich der tiefe und vornehme
Mensch bei N. immer wieder schamhaft (vgl. z. B. JGB 40, KSA 5, 59 f.; ferner
zur „Scham eines Gottes“ auch JGB 66, KSA 5, 85, 18, zu den Frauen, denen
Wissenschaft gegen die Scham geht, JGB 127, KSA 5, 95,12-14). Hingegen kenn-
zeichne den „modernen Gelehrten“ und seine „Entartung“ der „Mangel an Ehr-
furcht, Scham und Tiefe“, der mit ,,naive[r] Treuherzigkeit und Biedermännerei
in Dingen der Erkenntniss“ einhergehe und als„Plebejismus des Geis-
tes“ erscheine (FW 358, KSA 3, 605, 4-8). Die Schamüberwindung als Anreiz
des Erkenntnisstrebens steht damit selbst im Zwielicht.
Zur Interpretation von JGB 65 siehe auch Blondel 2000 und Grenke 2002,
zum Zusammenhang von Erkenntnis und Scham Za II Von den Mitleidigen,
KSA 4, 113-116. Die Scham bei N. analysieren gründlich Tongeren 2007 und
Planckh 1998; allgemein zum Thema in kulturhistorischer Perspektive Greiner
2014. Eine Quelle für N.s Überlegungen zur Scham dürfte Joseph Jouberts Essai
Qu’est-ce que la pudeur? (Joubert 1874, 2, 79-85) gewesen sein.
JGB 65 hat sich Thomas Mann 1894/95 in einem Notizbuch exzerpiert
(Mann 1991, 36).
65a.
85,13 65 a.] In der Erstausgabe von JGB trägt dieser Abschnitt ebenso wie der
vorangegangene die Nummer 65 (Nietzsche 1886, 87). In dem in der Anna Ama-
lia Bibliothek Weimar aufbewahrten Handexemplar des ersten JGB-Drucks
(Signatur C 4619) ist von N.s Hand beim zweiten Abschnitt ein doppelt unter-
strichenes „a“ zur Korrektur eingefügt. Die Zahlenspekulationen, die sich gele-
gentlich an die angeblich gewollte Verdoppelung von JGB 65 angeschlossen
haben (siehe z. B. Lampert 2001,140), sind angesichts von N.s Korrektur gegen-
standslos. Die Korrektur des Handexemplars wurde in späteren Ausgaben still-
schweigend übernommen (neben KGW und KSA z. B. bei Karl Schlechta: Nietz-
sche 1999, 2, 625).
 
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