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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0413
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Stellenkommentar JGB 68, KSA 5, S. 86 393

kenntniß ist“.) In der definitiven Fassung JGB 67 wird aus dem christlichen
Gedanken, der dem amor Dei, der Liebe zu Gott jede andere Liebe nachgeord-
net sein lässt (vgl. z. B. Aurelius Augustinus: Confessiones IV 4-7 und De doctri-
na Christiana I zur Unterscheidung von uti - Irdisches nutzen - und frui - Gott
genießen), die von den Christen durchaus intendierte Konsequenz gezogen,
dass die exklusive Liebe zu einer Sache die Liebe zu allem sonstigen beein-
trächtigt. Im Unterschied zum Christentum wird das aber nicht als wünschbar,
sondern als Barbarei hingestellt. Vgl. NK 79, 2-13.
Eine säkularisierte Form der christlichen Forderung, nur den Einen zu lie-
ben, dürfte N. auch bei der Lektüre des von ihm 1882 erworbenen Bandes Die
Physiologie der Liebe von Paolo Mantegazza gefunden haben: „Eine Stunde
lieben ist thierisch, einen Tag lieben ist menschlich, ein ganzes Leben lang
lieben englisch; ein Leben lang nur ein Wesen lieben ist göttlich.“ (Mantegaz-
za 1877, 394) Die frühere Fassung 3 [1]214 formuliert ausdrücklich einen Impera-
tiv, man solle viele lieben, und begründet das mit der für N. ungewöhnlich
demokratischen „Liebe zur Gerechtigkeit“, die man offensichtlich jedem schul-
det. Zugrunde liegt dem aber ein spezifisches Erkenntnisinteresse: Erkenntnis
gewinnt man demnach nicht platonisierend deduktiv durch die Einsicht in ein
Einziges (Gott), aus der man dann die Erkenntnis des Mannigfaltigen ableiten
kann, sondern aus der direkten Konfrontation mit dem Mannigfaltigen. Diese
Überlegungen in Richtung einer pluralistisch-empiristischen Erkenntniskon-
zeption entfallen freilich in der definitiven Fassung, die überdies die Begrün-
dung für den in der Christentumskritik topischen Barbarei-Vorwurf schmälert
(vgl. z. B. Feuerbach 1846, 2, 406: „Das Christenthum ist das Mittelalter der
Menschheit. Wir leben daher heute noch in der Barbarei des Mittelalters.“ In
dieselbe Kerbe schlägt Feuerbach mit seiner Polemik gegen die Forderung der
Christen, etwas Unsinnliches, nämlich Gott zu lieben).
Burnham 2007, 103 sieht eine Verbindung von JGB 67 mit JGB 172, KSA 5,
102, 16-18.
68.
86, 5-7 „Das habe ich gethan“ sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht ge-
than haben — sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich — giebt das Ge-
dächtniss nach.] Wortwörtlich, aber mit leicht abweichender und den Lese-
Rhythmus verändernder Zeichensetzung findet sich diese Sentenz bereits in NL
1882, KSA 10, 3[l]240, 82,1-3. Sprachlich variiert wird der Gedanke in NL 1884/
85, KSA 11, 31[53], 386, 27-29 und in NL 1884/85, KSA 11, 32[9], 405, 1-5 in
eine Wechselrede über die „Wissen- und Gewissenhaften“ eingebunden, deren
„Gedächtniß“ und „Stolz“ sich wie beschrieben verhielten. Einmal mehr griff
 
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