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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0430
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410 Jenseits von Gut und Böse

KSA 10, 2[44], 50, 9 f.: „Für einen guten Ruf zahlt man gewöhnlich zu viel:
nämlich sich selber.“ (Ähnlich auch NL 1882, KSA 10, 3[1]61, 60, 16 f.). In der
bürgerlichen Gesellschaft herrschte traditionell eine Hochschätzung des „gu-
ten Rufs“, der sich ebenso auf die Bibel (vgl. Sprüche Salomonis 22, 1 und
Prediger 7, 2) wie auf Aristoteles berufen kann: eüöo^ia, „der gute Ruf“ besagt,
„von jedem als vorzüglicher Mann angesehen zu werden“ (Aristoteles: Rhetorik
I 5, 1361a 25-27). JGB 92 macht demgegenüber die Kosten geltend, die der gute
Ruf, also das Ansehen in der Welt für denjenigen zeitigt, der diesen guten Ruf
genießen will. Dabei wird nicht nur, wie schon bei den Stoikern, behauptet,
die bona fama sei für die Vortrefflichkeit und das Glück gleichgültig (vgl. Cice-
ro: De finibus bonorum et malorum III17, 57), sondern sie sei mitunter nur um
den Preis der Selbstpreisgabe zu erlangen. In der Tradition der spanischen und
französischen Moralistik polemisierte insbesondere Schopenhauer im 4. Kapi-
tel der Aphorismen zur Lebensweisheit („Von Dem, was Einer vorstellt“ - Scho-
penhauer 1873-1874, 5, 373-429) gegen die Vergötzung des guten Rufs, wobei
er auch die einschlägige Cicero-Stelle zitierte (ebd., 386). Im Zentrum stand
dabei die „richtige Abschätzung des Werthes Dessen, was man in und für
sich selbst ist, gegen Das, was man bloß in den Augen Anderer ist“, die
allerdings „zu unserm Glücke viel beitragen“ (ebd., 374). JGB 92 pointiert diese
Auffassung Schopenhauers, indem das Selbst von der Sorge um den guten Ruf,
die Außenwirkung, fundamental bedroht erscheint.

93.
90, 9 f. In der Leutseligkeit ist Nichts von Menschenhass, aber eben darum allzu-
viel von Menschenverachtung.] Sehr ähnlich formuliert ist die Notiz NL 1882,
KSA 10, 3[1]429, 105, 7f. (vgl. die in KGW VII 4/1, 104 mitgeteilte, schließlich
entfallene Erweiterung). Die spätere Umformulierung in NL 1883, KSA 10, 22[3],
627, 5 f. nahm N. für die Druckfassung nicht auf: „In der Leutseligkeit ist viel
Menschenverachtung, aber nichts von Menschenhaß und -Liebe.“ Der Gedanke
selbst ist bereits angedeutet in MA II WS 339, KSA 2, 699 über die „Leutse-
ligkeit des Weisen“, der „wie ein Fürst“ allen Menschen „leutselig“ be-
gegne und sie damit „als gleichartig“ behandle, was ihm wiederum negativ
ausgelegt werde. Hier ist von der Empfindung des Leutseligen gegenüber den
Menschen noch nicht die Rede, während JGB 93 Menschenverachtung als
Nährboden der Leutseligkeit dingfest zu machen versucht: Der Leutselige inte-
ressiert sich demnach nicht für die Menschen als Individuen, sondern egali-
siert sie in seiner Leutseligkeit, um kommunikative Reibungsverluste möglichst
zu vermeiden.
 
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