Stellenkommentar JGB 157, KSA 5, S. 100 465
19. Vgl. GT Versuch einer Selbstkritik 4, KSA 1, 16, 13 f.: „Worauf weist jene
Synthesis von Gott und Bock im Satyr?“).
In dem unter N.s Büchern erhaltenen, vielbändigen Werk Demokritos oder
hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen von Carl Julius Weber wird
der „Sinn für das Tragische“ ironisch dem deutschen Nationalcharakter beige-
legt: „In unserem Charakter liegt einmal mehr Sinn für das Tragische, als für
das Komische, und das Gefühl scheint in Deutschland die Rolle zu spielen, die
in Frankreich der lachende Witz spielt“ ([Weber] 1868, 9, 93). Zum Tragischen
in N.s Spätwerk vgl. Schwab 2011 u. Sommer 2011b.
156.
100, 9 f. Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, — aber bei Gruppen, Partei-
en, Völkern, Zeiten die Regel.] In der ersten Fassung wird die Überlegung noch
erweitert mit einem Ausblick auf eine künftige pathographische Geschichts-
schreibung: „Der Irrsinn ist selten bei Einzelnen — aber bei Gruppen, Parteien,
Völkern, Zeiten die Regel : — und deshalb redeten bisher die Historiker nicht
vom Irrsinn. Aber irgend wann werden die Ärzte Geschichte schreiben.“ (NL
1882, KSA 10, 3[1]159, 72, 6-9) Wenn das Autor-Ich in GM die Geschichte der
Moral(en), in AC die Geschichte des Christentums in umwerterischer Absicht
schreibt, tut es dies dann unter expliziter Verwendung der Arzt-Metaphorik,
vgl. z.B. NK KSA 6, 174, 14-16. In NL 1881, KSA 9, 11[117], 483, 3f. heißt es
bereits: „Die moralischen Urtheile sind Epidemien, die ihre Zeit haben.“
(Siehe dazu Hofmann 1994, 66).
Braatz 1988, 198, Fn. 39 verweist darauf, dass N. sich zu solchen Überle-
gungen von William Edward Hartpole Leckys Geschichte des Ursprungs und
Einflusses der Aufklärung in Europa hat anregen lassen. Den Begriff der „Epide-
mie“ wandte Lecky 1873,1, 97 auf den Hexenglauben an. Bei Lecky 1873, 1, 49
hat N. beispielsweise die folgende Passage markiert (seine Unterstreichungen):
„Der Wahnsinn ist, seiner Natur nach, während grosser religiösen und politi-
schen Umwälzungen häufig; und im sechszehnten Jahrhundert waren alle sei-
ne Formen in das System der Hexerei aufgegangen und nahmen die Farbe der
herrschenden Geisteskrankheit an.“ Den ersten Satz belegte Lecky mit einem
Hinweis auf Henry Thomas Buckles Geschichte der Civilisation in England. Am
Rand des zweiten Satzes hat N. notiert: „Dies ist jetzt die herrschende Geistes-
krankheit.“ Zur Semantik des Irrsinns bei N. vgl. auch Politycki 1989, 414-419.
157.
100, 12 f. Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm
kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.] Die erste Version in NL 1882,
19. Vgl. GT Versuch einer Selbstkritik 4, KSA 1, 16, 13 f.: „Worauf weist jene
Synthesis von Gott und Bock im Satyr?“).
In dem unter N.s Büchern erhaltenen, vielbändigen Werk Demokritos oder
hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen von Carl Julius Weber wird
der „Sinn für das Tragische“ ironisch dem deutschen Nationalcharakter beige-
legt: „In unserem Charakter liegt einmal mehr Sinn für das Tragische, als für
das Komische, und das Gefühl scheint in Deutschland die Rolle zu spielen, die
in Frankreich der lachende Witz spielt“ ([Weber] 1868, 9, 93). Zum Tragischen
in N.s Spätwerk vgl. Schwab 2011 u. Sommer 2011b.
156.
100, 9 f. Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, — aber bei Gruppen, Partei-
en, Völkern, Zeiten die Regel.] In der ersten Fassung wird die Überlegung noch
erweitert mit einem Ausblick auf eine künftige pathographische Geschichts-
schreibung: „Der Irrsinn ist selten bei Einzelnen — aber bei Gruppen, Parteien,
Völkern, Zeiten die Regel : — und deshalb redeten bisher die Historiker nicht
vom Irrsinn. Aber irgend wann werden die Ärzte Geschichte schreiben.“ (NL
1882, KSA 10, 3[1]159, 72, 6-9) Wenn das Autor-Ich in GM die Geschichte der
Moral(en), in AC die Geschichte des Christentums in umwerterischer Absicht
schreibt, tut es dies dann unter expliziter Verwendung der Arzt-Metaphorik,
vgl. z.B. NK KSA 6, 174, 14-16. In NL 1881, KSA 9, 11[117], 483, 3f. heißt es
bereits: „Die moralischen Urtheile sind Epidemien, die ihre Zeit haben.“
(Siehe dazu Hofmann 1994, 66).
Braatz 1988, 198, Fn. 39 verweist darauf, dass N. sich zu solchen Überle-
gungen von William Edward Hartpole Leckys Geschichte des Ursprungs und
Einflusses der Aufklärung in Europa hat anregen lassen. Den Begriff der „Epide-
mie“ wandte Lecky 1873,1, 97 auf den Hexenglauben an. Bei Lecky 1873, 1, 49
hat N. beispielsweise die folgende Passage markiert (seine Unterstreichungen):
„Der Wahnsinn ist, seiner Natur nach, während grosser religiösen und politi-
schen Umwälzungen häufig; und im sechszehnten Jahrhundert waren alle sei-
ne Formen in das System der Hexerei aufgegangen und nahmen die Farbe der
herrschenden Geisteskrankheit an.“ Den ersten Satz belegte Lecky mit einem
Hinweis auf Henry Thomas Buckles Geschichte der Civilisation in England. Am
Rand des zweiten Satzes hat N. notiert: „Dies ist jetzt die herrschende Geistes-
krankheit.“ Zur Semantik des Irrsinns bei N. vgl. auch Politycki 1989, 414-419.
157.
100, 12 f. Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm
kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.] Die erste Version in NL 1882,