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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0488
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468 Jenseits von Gut und Böse

10, 3[1]176, 74, 6-11 ist weit ausführlicher: „Unserem stärksten Triebe, dem Ty-
rannen in uns, unterwirft sich nicht nur unsere Vernunft, sondern auch unser
Gewissen. Haben wir aber unter den Trieben keinen solchen Tyrannen, so be -
werben sich die einzelnen Triebe ebenso um die Gunst der Vernunft als um
die Gunst des Gewissens —: und Vernunft und Gewissen werden fast souve-
rän.“ Die Vorstufe rechnet also noch sehr wohl mit der Möglichkeit, dass in
einem Individuum kein Trieb hat dominierend werden können und dass sich
dann Gewissen oder Vernunft zu verselbständigen vermögen, was unter Vor-
wegnahme der späteren, expliziten Dekadenz-Kritik problematisch erscheinen
mag. Bei der verkürzten Fassung von JGB 158 könnte hingegen der Eindruck
entstehen, die Unterwerfung von Vernunft und Gewissen unter den stärksten
Trieb sei - so hätte es die rationalistische, aufklärerische Ethik gesehen - zu
verurteilen.
Die Rede vom „Tyrannen in uns“ oder „in mir“ tritt prominent in MA II
Vorrede 4 von 1886 ans Licht, wo dieser Tyrann mit der „Aufgabe“ identifiziert
wird, der man zu gehorchen hat: „Jenes verborgene und herrische Etwas, für
das wir lange keinen Namen haben, bis es sich endlich als unsre Aufgabe
erweist, — dieser Tyrann in uns nimmt eine schreckliche Wiedervergeltung für
jeden Versuch, den wir machen, ihm auszuweichen oder zu entschlüpfen“
(KSA 2, 373, 22-26). Erhellend ist vor dem Hintergrund von JGB 157 die Äuße-
rung gegenüber Overbeck vom 14. 08.1883: „Ich habe ein Ziel, welches mich
nöthigt, noch zu leben und dessentwegen ich auch mit den schmerzhaftesten
Dingen fertig werden muß. Ohne dieses Ziel würde ich es leichter neh-
men — nämlich, längst nicht mehr leben. Und nicht nur diesen Winter hätte
ein Jeder, der meinen Zustand aus der Nähe gesehn und begriffen hätte,
mir sagen dürfen: ,mach Dir’s doch leichter! StirbU [...] Also, lieber Freund,
der »Tyrann in mir4, der unerbittliche, will, daß ich auch dies Mal siege ([...])
Und wie meine Denkweise und letzte Philosophie nun einmal ist, so habe ich
sogar einen absoluten Sieg nöthig: nämlich die Umwandlung des Erlebnisses
in Gold und Nutzen höchsten Ranges. — —“ (KSB 6/KGB III/l, Nr. 451,
S. 426 f., Z. 4-24). Weniger heroisch fiel das Bekenntnis Anfang Dezember 1882
an Heinrich von Stein aus: „Was ,den Helden4 betrifft: so denke ich nicht so
gut von ihm wie Sie. [...] Man gewinnt etwas lieb: und kaum ist es Einem von
Grund aus lieb geworden, so sagt der Tyrann in uns (den wir gar zu gerne
»unser höheres Selbst4 nennen möchten): »Gerade das gieb mir zum Opfer.4 Und
wir geben’s auch — aber es ist Thierquälerei dabei und Verbranntwerden mit
langsamem Feuer“ (KSB 6/KGB III/l, Nr. 342, S. 287, Z. 27-36, vgl. NL 1882/83,
KSA 10, 5[l]7O, 195, 9-11 und 5[1]95, 198, 3-5).
Die Gedankenfigur vom inneren Tyrannen stammt nicht von N. selbst; viel-
mehr hat er sie eigentümlich umgeprägt, nämlich dahingehend, diesen Tyran-
 
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