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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0502
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482 Jenseits von Gut und Böse

verrathen ] Vgl. NL 1882, KSA 10, 3[1]324, 92, 15-17: „Man umarmt aus Men-
schenliebe mitunter einen Einzelnen, weil man nicht Alle umarmen kann: aber
man darf das dem Einzelnen nicht verrathen!“ Eine erste Fassung lautet: „Die
Liebe zu Einem Manschen} strahlt hier und da Liebe zu allen Manschen} aus:
und die eigentliche Menschenliebe umarmt mitunter jeden einen Einzelnen,
weil sie nicht Alle umarmen kann und wird dann verwechselt.“ (KGW VII 4/1,
92f.) Den Gedankengang variiert NL 1882, KSA 10, 3[1]332, 93,19-23 (vgl. KGW
VII 4/1, 93). NL 1885/86, KSA 12, 2[12], 71 (entspricht KGW IX 5, W I 8, 265)
beschreibt unter dem Leitwort „Inter pares“ (KSA 12, 71, 7) „jene gefährlichen
herzzerreißenden Ausbrüche aller verhehlten Unseligkeit, aller nicht erstickten
Begierde, aller aufgestauten und wild gewordenen Ströme der Liebe, — den
plötzlichen Wahnsinn jener Stunde, wo der Einsame einen Beliebigen umarmt
und als Freund und Zuwurf des Himmels und kostbarstes Geschenk behandelt,
um ihn eine Stunde später mit Ekel von sich zu stoßen“ (KSA 12, 71, 15-21).
In M rückt das Ideal der Menschenliebe, deren „Cultus“ hier mit der Verab-
schiedung der christlichen Dogmen in einen genetischen Zusammenhang ge-
bracht wird (M 132, KSA 3, 123, 21-23), in ironische Distanz: „Möge ein Dichter
einmal im Bilde einer Utopie die allgemeine Menschenliebe als vor-
handen zeigen: gewiss, er wird einen qualvollen und lächerlichen Zustand zu
beschreiben haben, dessengleichen die Erde noch nicht sah“ (M 147, KSA 3,
138, 28-32). Damit steht die aufklärerische Forderung der Philanthropie ebenso
zur Disposition wie Schopenhauers Ethik, die explizit auf der Menschenliebe
aufbaute (Schopenhauer 1873-1874, 6, 336). Für Schopenhauer war das Mitleid
die „wahre Quelle“ der Menschenliebe (ebd., 6, 230; vgl. ebd., 4/2, 237) und
neben der Gerechtigkeit die eigentliche „Kardinaltugend“ (ebd., 4/2, 226), die
noch nicht von den antiken Philosophen, wohl aber vom Christentum, „dessen
allergrößtes Verdienst eben hierin besteht“, „förmlich als Tugend, und zwar
als die größte von allen, aufgestellt“ worden wäre (ebd.). Menschenliebe übe
ich demzufolge nur aus, wenn ich statt des eigenen Wohls das fremde Wohl
im Blick und „mich mit dem Andern gewissermaaßen identificirt habe, und
folglich die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich, für den Augenblick, aufge-
hoben sei“ (ebd., 4/2, 229). JGB 172 lässt sich als Inversion von Schopenhauers
Vorlage lesen: Wenn ich den konkreten Anderen „umarme“, tue ich das mitun-
ter nicht um meines eigenen Wohles willen (das wäre für Schopenhauer unmo-
ralischer Egoismus), sondern bloß, um an diesem Anderen meine allgemeine
Menschenliebe zu exemplifizieren. Das Problem dieser Menschenliebe besteht
darin, dass sie in ihrem faktischen Vollzug niemals die Menschheit als solche
zum Gegenstand machen kann, sondern sich immer einzelne Menschen aussu-
chen muss, mit denen und mit deren Leid sich der Menschenliebende dann
nach Schopenhauer „identificirt“. Bei Zwang zur Konkretion ist aber kaum je
 
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