Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0537
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar JGB 192, KSA 5, S. 112-113 517

10-23 auftritt, erkennt hingegen, dass die kleine Vernunft nur eine Dienerin
der großen Vernunft der Instinkte oder des Leibes darstellt. Interessant wäre
zu erfahren, woher ein solcher divinatorischer Einblick in Sokrates’ geheime
innere Befindlichkeit denn gewonnen sein soll, wenn doch nichts anderes zur
Verfügung steht als die Schriften Platons (und diejenigen Xenophons). Vgl. NK
146, 25-147, 1.
112, 25 f. Selbstüberlistung] Der Ausdruck „Selbstüberlistung“, den N. in NL
1876/77, KSA 8, 20[6], 362, 9 erstmals benutzt hat (vgl. MA I 545, KSA 2, 329,
8f.; MA II VM 52, KSA 2, 402, 26 u. JGB 200, KSA 5, 121, 10), ist entgegen
mancher Beteuerungen in der Forschungsliteratur (vgl. Nietzsche 2000, 334,
Anm. 342) keine eigene Wortschöpfung N.s. Er lässt sich bereits im program-
matischen Vorwort der einflussreichen Christlichen Glaubenslehre von Alexan-
der Schweizer nachweisen, der das „bloß amtlich veranlaßte Sichaufnöthigen
eines Dogmensystems welchem die aufrichtige Ueberzeugung nicht mehr fol-
gen kann“ beklagt hat, „so daß nur Selbstüberlistung oder Selbstvergewalti-
gung das nicht mehr fromme sondern abergläubige Ziel willkürlich genug zu
ergreifen sucht“ (Schweizer 1863, IV). Das Vorwort wurde, einschließlich dieser
Passage, auch abgedruckt in den Zeitstimmen aus der reformirten Kirche der
Schweiz (1863, 323), also in einer Zeitschrift, von der nachgewiesen worden ist,
dass N. daraus 1865 Exzerpte angefertigt hat (vgl. Brobjer 2005a).
113,1-5 Man müsste denn Descartes ausnehmen, den Vater des Rationalismus
(und folglich Grossvater der Revolution), welcher der Vernunft allein Autorität
zuerkannte: aber die Vernunft ist nur ein Werkzeug, und Descartes war oberfläch-
lich.] Mit seiner Privilegierung der Vernunft gegenüber den Instinkten scheint
Descartes in prinzipieller Opposition zum zweitausendjährigen ,herdenmorali-
schen4 Konsens zu stehen, was sich mit anderen Äußerungen N.s in seinen
letzten Schaffensjahren deckt, die die antichristliche Tendenz von Descartes’
Denken betonen (vgl. NK 73, 5-22; NK KSA 6, 180, 15-21 u. NK KSA 6, 361, 12-
17). Ihn als „Vater des Rationalismus“ zu bezeichnen, ist topisch - aber nicht
ihn als „Grossvater der [Französischen] Revolution“ zu titulieren, auch wenn
er gemeinhin als Ahnherr der Aufklärer gilt. Da andere Texte N.s freilich die
Französische Revolution als Ausdruck niederster, plebejischer Instinkte herab-
zuwürdigen pflegen (vgl. NK 56, 7-18), fragt sich, wie der doch in JGB 191 als
Oppositionsfigur zum sokratisch-platonisch-christlichen Herden-Moralkonsens
aufgerufene Descartes denn zu den Idealen der Revolution passen kann.
192.
Die JGB 192 zugrunde liegende Nachlass-Aufzeichnung stammt bereits vom
Herbst 1881 (M III 1) und lautet nach KSA 14, 358: „Wie es in der Geschichte
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften