Stellenkommentar JGB 208, KSA 5, S. 139 579
bemerkte Bourget in seinen Essais de Psychologie contemporaine: „Et comme
notre epoque est atteinte d’une maladie de la volonte, de lä cette vogue dune
litterature dont la Psychologie convient si bien aux affaiblissements progressifs
du ressort interieur. Lentement, et dans beaucoup d’esprits soumis ä l’educati-
on des romans nouveaux, s’elabore la conception que l’effort est inutile, et le
pouvoir des causes etrangeres irresistible.“ (Bourget 1883, 167. „Und da unsere
Epoche von einer Krankheit des Willens betroffen ist, kommt von da her diese
Woge einer Literatur, der die Psychologie fortschreitender Schwächungen des
innerlichen Vermögens so gut entspricht. Langsam und in vielen der Erziehung
durch die neuen Romane unterworfenen Geistern nimmt die Konzeption Ge-
stalt an, dass die Anstrengung unnütz sei und die Macht äußerer Ursachen
unwiderstehlich.“). Diesen Befund einer umgreifenden Willenskrankheit, von
Bourget auch mit dem Etikett des „fatalisme“ (ebd., 166) belegt, versuchten
andere zeitgenössische Autoren sozialmedizinisch und psychologisch zu erhär-
ten, so etwa Theodule Ribot in seinem mehrfach aufgelegten Buch Les mala-
dies de la volonte (Ribot 1883). Lampl 1988, Haaz 2002 und v. a. Cowan 2005,
53-62 (vgl. auch 65 f.) vermuten bei N. eine direkte Auseinandersetzung mit
Ribots Buch und den Vorabdrucken einzelner Passagen daraus in der von Ribot
verantworteten Revue philosophique de la France et de l’etranger. Allerdings
sind Les maladies de la volonte in N.s Bibliothek nicht erhalten. Das Thema lag
sichtlich in der Luft: 1886 folgte bereits die zweite Auflage von Georg Friedrichs
1885 erstmals erschienener Abhandlung Die Krankheiten des Willens. Friedrich
argumentiert, „daß weitaus die Mehrzahl der Geistesstörungen auf Wil-
lenskrankheiten zurückzuführen ist“ (Friedrich 1886, Vorwort, [III]).
139, 10-17 Im jetzigen Frankreich ist demnach, wie man es ebenso leicht er-
schliessen als mit Händen greifen kann, der Wille am schlimmsten erkrankt; und
Frankreich, welches immer eine meisterhafte Geschicklichkeit gehabt hat, auch
die verhängnisvollen Wendungen seines Geistes in’s Reizende und Verführerische
umzukehren, zeigt heute recht eigentlich als Schule und Schaustellung aller Zau-
ber der Skepsis sein Cultur-Übergewicht über Europa.] Entsprechende Indizien
konnte N. bei seinen Lektüren vielfach sammeln. Besonders einprägsam stellte
ihm Paul Bourget das zeitgenössische Kulturpanorama Frankreichs als Krank-
heitsbild vor Augen. Bei ihm las er etwa: „Ajoutez ä cela que la generation
nouvelle a grandi parmi des tragedies sociales inconnues de celle qui la prece-
dait. Nous sommes entres dans la vie par cette terrible annee de la guerre et
de la Commune, et cette annee terrible n’a pas mutile que la carte de notre
eher pays, eile n’a pas incendie que les monuments de notre chere ville; quel-
que chose nous en est demeure, ä tous, comme un premier empoisonnement
qui nous a laisses plus depourvus, plus incapables de resister ä la maladie
intellectuelle oü il nous a fallu grandir. — Pour quelles destinees? Qui le saura?
bemerkte Bourget in seinen Essais de Psychologie contemporaine: „Et comme
notre epoque est atteinte d’une maladie de la volonte, de lä cette vogue dune
litterature dont la Psychologie convient si bien aux affaiblissements progressifs
du ressort interieur. Lentement, et dans beaucoup d’esprits soumis ä l’educati-
on des romans nouveaux, s’elabore la conception que l’effort est inutile, et le
pouvoir des causes etrangeres irresistible.“ (Bourget 1883, 167. „Und da unsere
Epoche von einer Krankheit des Willens betroffen ist, kommt von da her diese
Woge einer Literatur, der die Psychologie fortschreitender Schwächungen des
innerlichen Vermögens so gut entspricht. Langsam und in vielen der Erziehung
durch die neuen Romane unterworfenen Geistern nimmt die Konzeption Ge-
stalt an, dass die Anstrengung unnütz sei und die Macht äußerer Ursachen
unwiderstehlich.“). Diesen Befund einer umgreifenden Willenskrankheit, von
Bourget auch mit dem Etikett des „fatalisme“ (ebd., 166) belegt, versuchten
andere zeitgenössische Autoren sozialmedizinisch und psychologisch zu erhär-
ten, so etwa Theodule Ribot in seinem mehrfach aufgelegten Buch Les mala-
dies de la volonte (Ribot 1883). Lampl 1988, Haaz 2002 und v. a. Cowan 2005,
53-62 (vgl. auch 65 f.) vermuten bei N. eine direkte Auseinandersetzung mit
Ribots Buch und den Vorabdrucken einzelner Passagen daraus in der von Ribot
verantworteten Revue philosophique de la France et de l’etranger. Allerdings
sind Les maladies de la volonte in N.s Bibliothek nicht erhalten. Das Thema lag
sichtlich in der Luft: 1886 folgte bereits die zweite Auflage von Georg Friedrichs
1885 erstmals erschienener Abhandlung Die Krankheiten des Willens. Friedrich
argumentiert, „daß weitaus die Mehrzahl der Geistesstörungen auf Wil-
lenskrankheiten zurückzuführen ist“ (Friedrich 1886, Vorwort, [III]).
139, 10-17 Im jetzigen Frankreich ist demnach, wie man es ebenso leicht er-
schliessen als mit Händen greifen kann, der Wille am schlimmsten erkrankt; und
Frankreich, welches immer eine meisterhafte Geschicklichkeit gehabt hat, auch
die verhängnisvollen Wendungen seines Geistes in’s Reizende und Verführerische
umzukehren, zeigt heute recht eigentlich als Schule und Schaustellung aller Zau-
ber der Skepsis sein Cultur-Übergewicht über Europa.] Entsprechende Indizien
konnte N. bei seinen Lektüren vielfach sammeln. Besonders einprägsam stellte
ihm Paul Bourget das zeitgenössische Kulturpanorama Frankreichs als Krank-
heitsbild vor Augen. Bei ihm las er etwa: „Ajoutez ä cela que la generation
nouvelle a grandi parmi des tragedies sociales inconnues de celle qui la prece-
dait. Nous sommes entres dans la vie par cette terrible annee de la guerre et
de la Commune, et cette annee terrible n’a pas mutile que la carte de notre
eher pays, eile n’a pas incendie que les monuments de notre chere ville; quel-
que chose nous en est demeure, ä tous, comme un premier empoisonnement
qui nous a laisses plus depourvus, plus incapables de resister ä la maladie
intellectuelle oü il nous a fallu grandir. — Pour quelles destinees? Qui le saura?