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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0613
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Stellenkommentar JGB 211, KSA 5, S. 144 593

211.
JGB 211 etabliert - vgl. N.s Diktat in Dns Mp XVI, BL 33r bei Röllin 2012, 215 -
die Differenz zwischen den Philosophen als ,,Befehlende[n] und Ge-
setzgeber[n]“ einerseits und den „philosophischen Arbeiter[n]“ anderer-
seits (145, 8-11), als deren ,,edle[.] Muster“ (144, 27) keine Geringeren als Kant
und Hegel gelten. Die philosophischen Arbeiter bleiben bei all der Subtilität
ihrer Kritik und all der Großartigkeit ihrer Systemarchitektur letztlich rezeptiv;
sie kodifizieren und logifizieren den Status quo, die herrschende Weitsicht und
die in sie eingegossenen Wertungsweisen oder Moralen. Der „eigentliche“ Phi-
losoph soll demgegenüber kreativ, wertschaffend tätig sein. JGB 211 stellt im
Anschluss an das Ende von JGB 208 die alte platonische und neue „Aufgabe“
des Zukunftsphilosophen ins rechte Licht: „sie verlangt, dass er Werthe
schaffe“ (144, 25f.). Immerhin aber konzediert JGB 211, dass der wertschaf-
fende Philosoph all die rezeptiven, skeptischen und kritischen Stadien durch-
laufen habe(n müsse), bevor er wird, was er ist (vgl. 144, 17-24). Die Dichoto-
mie von philosophischem Arbeiter und echtem Philosophen ist also keine ab-
solute: Entwicklung ist möglich, ja notwendig. Ohne Entwicklung, ohne
(Selbst-)Überwindung des Früheren gäbe es nie Philosophen der Zukunft. Vgl.
auch Rayman 2013/14, 62.
144,11-13 dass man gerade hier mit Strenge „Jedem das Seine“ und Jenen nicht
zu Viel, Diesen nicht viel zu Wenig gebe] Die in der Formel „Jedem das Seine“
kondensierte Vorstellung der distributiven Gerechtigkeit, der zufolge jeder
nach seinem Verdienst und Wert belohnt oder bestraft werden soll, ist in Pla-
tons Politeia (433a-e, vgl. Nomoi 757c) präsent und wird in Aristoteles’ Nikoma-
chischer Ethik (1130b-1131a) ausformuliert. Sie geht in das römische Rechtsver-
ständnis über (vgl. z. B. Cicero: De legibus I 6, 19 u. De officiis I 15; Ulpian:
Digesten I 10, 1). Während JGB 211 die Formel nicht in einem tiefsinnigen
rechtsphilosophischen Kontext gebraucht, sondern einfach nur, um der einge-
forderten Differenz zwischen echten Philosophen und bloßen philosophischen
Arbeitern gnomisch Nachdruck zu verleihen, hat N. schon in MA 1105, KSA 2,
102 mit einer Aufhebung herkömmlicher Formen der Verteilungsgerechtigkeit
experimentiert. Seinen Zarathustra lässt er ausrufen: „Wie kann ich Jedem das
Seine geben! Diess sei mir genug: ich gebe Jedem das Meine“ (Za I Vom Biss
der Natter, KSA 4, 88, 25-27). Vgl. NK 227, 4-8.
144, 24-26 Aber dies Alles sind nur Vorbedingungen seiner Aufgabe: diese Auf-
gabe selbst will etwas Anderes, — sie verlangt, dass er Werthe schaffe.] Zu
N.s Zeit war die Frage Gegenstand des politisch-ökonomischen Diskurses, ob
das Kapital oder doch die Arbeit zur Werteschaffung imstande sei, vgl. unter
den Büchern in N.s Bibliothek z. B. Reich 1870-1871, 1, 272: „Die Arbeit ist es
 
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