Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0660
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
640 Jenseits von Gut und Böse

der Engländer. Wenn sie die Müdigkeit fliehen, die ihnen der eine dieser Tyran-
nen verursacht, /449/ können sie den Sorgen nicht entkommen, die der andere
hervorruft, und es geschieht auf diese Weise, dass ihr Leben sich darin verliert,
die Mittel zu suchen, bequem zu leben oder ihre Nachbarn zu Eifersucht zu
inspirieren. Die Leidenschaft der Mode ist nur das Bedürfnis, beneidet oder
bewundert zu werden, was in der Sprache der Leute von Welt synonym würde,
wenn sie aufrichtig wären.“) Der Klammerzusatz von JGB 228 über das engli-
sche Glück, das „an höchster Stelle, einem Sitz im Parlament“ hinterherhaste,
ist ein böser Seitenhieb auf John Stuart Mill (vgl. Wolf 2004, 206), der seit 1865
dem britischen Unterhaus angehörte, dort weitgehende Reformen, u. a. das
Frauenwahlrecht forderte und 1868 prompt wieder abgewählt wurde.
Die Orientierung am „Glück der Meisten“ oder am Glück der größtmögli-
chen Zahl ist ein utilitaristischer Grundsatz, den N. bei seinen Lektüren viel-
fach variiert fand (z. B. bei Spencer 1879, 239 nach Mills Utilitarianism, aber
auch bei Galton 1883, 300; dazu Haase 1989, 646). Die Wendung, dass die ge-
wissensberuhigten Herdentiere „die Sache des Egoismus als Sache der allge-
meinen Wohlfahrt zu führen unternehmen“, ist wiederum eine direkte Adapti-
on von Spencerschen Vorgaben: „Mit andern Worten, die Ethik hat die Wahr-
heit anzuerkennen, welche übrigens im nichtethischen Denken längst
anerkannt ist, dass der Egoismus vor dem Altruismus kommt. Die zur fortge-
setzten Selbsterhaltung erforderlichen Thätigkeiten mit Einschluss des Genus-
ses von durch solche Thätigkeiten erlangten Vortheilen sind die allerersten
Vorbedingungen der allgemeinen Wohlfahrt.“ (Spencer 1879, 204, vgl. 41 u.
258 f.) Hört man damit auf, wie es bei N. geschieht, die prinzipielle Gleichran-
gigkeit der Menschen anzunehmen, löst sich auch die „allgemeine Wohlfahrt“
als moralisches Ideal in Luft auf. Mit einer solchen Provokation - so N.s mut-
maßliche Wirkungskalkulation - müsste sich auch die angeblich mit Moralre-
flexion gemeinhin verbundene Langeweile verflüchtigen.
165, 13-18 Heil euch, brave Karrenschieber, / Stets „je länger, desto lieber“, /
Steifer stets an Kopf und Knie, / Unbegeistert, ungespässig, / Unverwüstlich-mit-
telmässig, / Sans genie et sans esprit!] Im Druckmanuskript folgte darauf noch
die Strophe „Deutsche, solcher Engeländer / Heerdenviehische Verständer /
Ehrt ihr als „Philosophie“? / Goethe Spencer neben Darwin Hegel setzen - / -
Schämt euch, Deutsche! heißt verletzen / Majestatem genii.“ (KSA 14, 365)
In NL 1884, KSA 11, 28[45], 317, 8-318, 5 gibt es dazu die Vorarbeit, unmissver-
ständlich nicht an die Engländer, sondern an die Deutschen adressiert: „An
die deutschen Esel. // Dieser braven Engeländer / Mittelmäßige Verstän-
der / Nehmt ihr als »Philosophie4? / Darwin neben Goethe setzen / Heißt: die
Majestät verletzen — / majestatem Genii! // aller mittelmäßigen Geister /
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften