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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0661
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Stellenkommentar JGB 229, KSA 5, S. 165 641

Erster — das sei ein Meister, / und vor ihm auf die Knie! / Höher ihn herauf zu
setzen / Heißt-“. Eine weitere Variante folgt in NL 1884, KSA 11, 28[46],
318, 6-14: „Heil euch, biedere Engländer / Eurem Darwin heil, verständ er /
Euch so gut wie als sein Vieh! // Billig ehrt ihr Engeländer / Euren Darwin
hoch, verständ er / Auch nicht mehr als Zucht von Vieh. // Nur — zu Goethen
ihn zu setzen / Heißt die Majestät verletzen / Majestatem genii!“ (Vgl. auch die
in KGW VII 4/2, 229 mitgeteilte Vorstufe).
Während die schließlich publizierte Fassung der Spottverse jedes direkte
argumentum ad personam ausklammert (die nd-personnm-Invektivik hatte in
der Philologie des 19. Jahrhunderts eine große Tradition, vgl. Danneberg 2007,
108-110), so dass im Ungefähren bleibt, wer sich angesprochen und getroffen
fühlen soll, nennt die Manuskriptfassung von 1884 Ross und Reiter beim Na-
men: Darwin mit Goethe zu assoziieren, sei der intellektuelle Sündenfall. Her-
vorgetan hatte sich hierin der führende deutsche Evolutionsbiologe Ernst Hae-
ckel, nicht nur in seiner vielfach aufgelegten Natürlichen Schöpfungsgeschichte
(Haeckel 1879, 72 f.: „Unter den großen Naturphilosophen, denen wir die erste
Begründung einer organischen Entwickelungstheorie verdanken, und welche
/73/ neben Charles Darwin als die Urheber der Umbildungslehre glänzen,
stehen obenan Jean Lamarck und Wolfgang Goethe“), sondern auch
in einer eigenständigen Abhandlung unter dem Titel Die Naturanschauung von
Darwin, Goethe und Lamarck (Haeckel 1882). Im Druckmanuskript von JGB 228
wird das Paar Goethe/Darwin dann durch das damals gleichfalls populäre Paar
Hegel/Spencer ersetzt, um schließlich ganz zu entfallen.

229.
JGB 229 bietet (im Dienste „unserer Tugenden“?) das Kontrastprogramm zu den
Philosophien, die nach JGB 225 und JGB 228 die Lust, das Wohlergehen, die Ab-
wesenheit von Leiden zum Fundamentalinteresse von Individuum und Gesell-
schaft erklärt haben. Diese Philosophien erscheinen im Licht des Leitbegriffs von
JGB 229, nämlich der Grausamkeit, als fast schon rührende Naivitäten. Denn sie
verkennen fundamental, so die Implikation, wie sehr das menschliche Leben
von Grausamkeit bestimmt wird und werden muss - wie sehr menschliche Kul-
tur von Grausamkeit geprägt wird und werden muss. Dabei gilt keineswegs nur
die Grausamkeit, die sich am Leid anderer ergötzt, als mächtige Triebfeder, son-
dern gleichermaßen diejenige, die sich am eigenen Leid weidet - eine quasi ma-
sochistische Grundstruktur menschlicher Individualität. Entgegen der Tradition
wird weder die Sedierung, noch die Abschaffung der Grausamkeit empfohlen,
sondern auf ihre kreative Kraft aufmerksam gemacht, ohne freilich darzulegen
 
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