Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0724
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
704 Jenseits von Gut und Böse

Volkscharaktere. Schank 2000, 66-68 stellt (auf der Materialgrundlage von Po-
liakov 1979, 259 f. u. ö.) heraus, dass die Sortierung von Völkern nach dem binä-
ren Schema männlich/weiblich im 18. und 19. Jahrhundert weit verbreitet war,
betont aber, dass JGB 248 das gegenseitige Angewiesensein des weiblichen und
des männlichen Elements demonstrieren wolle. Demgegenüber wurde, kann
man ergänzen, das Verdikt „Verweiblichung“ oft als politischer Kampfbegriff
gegen gegnerische Völker eingesetzt (vgl. schon Gaius lulius Caesar: Commen-
tarii de bello Gallico I 1, 3, zitiert in NK 52, 6). Schank weist insbesondere auf
die zehnbändige Allgemeine Cultur-Geschichte der Menschheit (1843-1852) von
Gustav Friedrich Klemm hin, der die Unterscheidung zwischen männlichen
und weiblichen, aktiven und passiven Völkern zum historiographischen Prin-
zip erhoben hatte und ebenfalls von der Notwendigkeit der Verschmelzung bei-
der unterschiedlicher Volksarten ausgegangen war. Allerdings merkt Schank
an, dass sich kein Beleg dafür finden lasse, dass N. Klemms monumentales
Werk gelesen habe - ein Befund, an dem bislang auch der Umstand nichts
ändert, dass KGW VII 4/1, 187 für NL 1883, KSA 10, 8[1], 325, If. behauptet,
dies sei ein „Exzerpt“ aus Klemm 1843-1852, 4, 370: Die fragliche Information
über die „Tonga-Insulaner“, die ihren kleinen Finger zu opfern pflegen, konnte
N. auch anderen Quellen entnommen haben, so z. B. Spencer (Fornari 2009,
159 f., Fn. 175) oder Wuttke 1852, 1, 141.
Die Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Völkern koloni-
sierte im 19. Jahrhundert auch das politische Feld; so hielt Bismarck im Kontext
des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 die mit den Germanen gleichge-
setzten Deutschen für ein männliches Volk, die Kelten, die Slaven (an anderer
Stelle auch die Juden) für weibliche Völker, wobei er die klare Dominanz des
männlichen Parts einforderte (vgl. Odenwald-Varga 2009, 286 u. 412): ,„Die
deutsche, die germanische Race‘, sagte er, ,ist, so zu sagen, das männliche
Prinzip, das durch Europa geht — befruchtend. Die keltischen und slavischen
Völker sind weiblichen Geschlechts. Jenes Prinzip geht vor bis an die Nordsee
und durch bis nach England hinüber/“ (Busch 1878-1879, 2, 310) N. kannte die
Quelle, die von Moritz Busch aufgezeichneten „Tischgespräche“ Bismarcks
sehr wohl, bildeten sie doch einen Gesprächsgegenstand zwischen ihm und
Overbeck (vgl. Overbecks Brief an N. vom 27. 08.1879, KGB II 6/2, Nr. 1222,
S. 1153, Z. 30-35). Auch in einer Vorarbeit zu JGB 252 nahm er einen Ausspruch
daraus auf, siehe NK 194, 30-195, 1.
JGB 248 ordnet gegen den Mainstream das vermeintlich exemplarische Kul-
turvolk der Griechen trotz seiner kulturexpansiven Kraft den weiblichen Völ-
kern zu, ebenso die (aus deutscher Sicht traditionell für effeminiert gehalte-
nen) Franzosen, während die Juden die männlichen Völker anführen. Aber die
auch bei Bismarck ausgeprägte Herrsucht der männlichen Völker bleibt beste-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften