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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0727
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Stellenkommentar JGB 250, KSA 5, S. 192 707

nicht, daß mein alter Sohn so gegen den Strom schwimmt. Nach meinem Da-
fürhalten war das Loblied auf d(ie} J(uden} singen, denen jetzt alt und jung
hoch und niedrig wie ein Mann entgegensteht, überflüssig besonders da es Dir
mehr schaden als nützen kann, es ist aber geschehen und Du mußt doch Deine
Gründe haben warum es geschehen ist. Lieschen und Bernhard [sc. Elisabeth
und Bernhard Förster] ist es gewiß unangenehm, doch sie haben jetzt einen
anderen Wirkungskreis.“ (KGB III 6, Nr. 503, S. 126, Z. 30-40) Dafür wird JGB
250 (wie z. B. JGB 52) im Antisemiten-Hammer als Zeugnis gegen den zeitgenös-
sischen Antisemitismus vorgetragen (Schrattenholz 1894, 434). Zur Interpreta-
tion von JGB 250 siehe z. B. Simon 1998, 115-120 u. Born/Pichler 2013, 38 f.
192, 6-11 Was Europa den Juden verdankt? — Vielerlei, Gutes und Schlimmes,
und vor allem Eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist: den grossen
Stil in der Moral, die Furchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen, un-
endlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und Erhabenheit der moralischen
Fragwürdigkeiten] In JGB 195 erscheinen die Juden demgegenüber noch als jene
Umwerter der Moral, die eine sklavische Umkehrung der einst herrschenden,
aristokratischen Werte zuwege gebracht haben. Die dortigen Überlegungen ste-
hen unter dem Vorzeichen der Renan-Lektüre, vgl. NK 116, 29-117, 9. Wenn JGB
250 die Juden als die Erfinder „unendlicher Forderungen“ im Felde der Moral
darstellt, erinnert das an die N. aus seiner religiösen Sozialisierung wohlbe-
kannte lutherische Lehre von der Unerfüllbarkeit des Gesetzes, das den Men-
schen wiederum auf die notwendige göttliche Gnade zurückverweist. Diese Un-
erfüllbarkeit wurde, so die historische Tiefenschichtanalyse in JGB 250, durch
den prinzipiell unendlichen, den Menschen in jeder Hinsicht überfordernden
Anspruch der jüdischen Moral erzeugt (gedacht ist hier vermutlich weniger an
den Dekalog als vielmehr an die Propheten, die schon in JGB 195 angelehnt an
Renan die Referenzfiguren verkörperten). Freilich unterbleiben alle Hinweise
darauf, wo genau dieser „grosse Stil in der Moral, die Furchtbarkeit und Majes-
tät unendlicher Forderungen“ konkret historisch greifbar sein sollen. JGB 52
hatte den „grossen Stil“ schon dem Alten Testament, seinen „Menschen, Din-
ge [n] und Reden“ (72, 3) zuerkannt, vgl. NK 72, 2-7.
192,13 Verführungen zum Leben] Während nach Luthers Lehre vom göttlichen
Gesetz dessen prinzipielle Unerfüllbarkeit den Menschen zur Gnade Christi
hinführen soll, bieten dessen Unerfüllbarkeit und Erhabenheit in JGB 250 den
pikanten Reiz, das irdische Leben erst recht und bis zur Neige auszukosten,
könne man dem moralischen Gesetz doch ohnehin nicht Genüge tun. Diese
nicht intendierte Wirkung der „unendlichen“ moralischen „Forderungen“
kann dann selbst jene Beobachter milde stimmen, die sich von der herkömmli-
chen Moral (und insbesondere von der herkömmlichen Moral im Erhabenheits-
 
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