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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0738
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718 Jenseits von Gut und Böse

Kultur nach dem Tod von Louis XIV unter den Einfluss englischer (politischer
und philosophischer) Ideen geriet, war N. im Blick auf Montesquieu oder auf
Voltaires Lettres philosophiques (Lettres anglaises, 1734) wohlbekannt. In Jo-
hann Jakob Honeggers Kritischer Geschichte der französischen Cultureinflüsse
hat er lesen können, dass der leitende Minister während der Regence, Kardinal
Guillaume Dubois (1656-1723), „die Anglomanie“ aufgebracht hatte, „die einen
Theil des Jahrhunderts über in Frankreich vorherrschte“ und mit „schamlose-
ste[r] Sittenlosigkeit“ assoziiert gewesen sei (Honegger 1875, 146). „Angloma-
nie“ als übersteigerte Form der Liebe zu England taucht verbaliter bei N. nur
in JGB 253 auf; aber das Wort ist schon alt und gibt beispielsweise auch Goethe
zu kritischer Reflexion Anlass: „Die Engländer sind vielleicht vor vielen Natio-
nen geeignet, Auswärtigen zu imponiren. Ihre persönliche Ruhe, Sicherheit,
Thätigkeit, Eigensinn und Wohlhäbigkeit geben beinahe ein unerreichbares
Musterbild von dem was alle Menschen sich wünschen. Ohne uns hier in ein
Allgemeines einzulassen, bemerken wir nur, daß die Klage über Anglomanie
von früherer Zeit bis zur neuesten in der französischen Literatur vorkommt.
[...] Dieses Vorziehen einer fremden Völkerschaft, dieses Hintansetzen seiner
eigenen kann doch wohl aber nicht höher getrieben werden, als wir es oben
bei Voltairen finden, der die Newtonische Lehre zum regnum coelorum und
die Franzosen zu den parvulis macht. Doch hätte er es gewiß nicht getan, wenn
das Vorurteil in seiner Nation nicht schon gang und gäbe gewesen wäre. Denn
bei aller Kühnheit hütet er sich doch, etwas vorzubringen, wogegen er die all-
gemeine Stimmung kennt“ (Goethe 1853-1858, 39, 327).
197, 25 äme frangaise] Französisch: „französische Seele“.

254.
JGB 253 endet mit der Antithese zwischen dem vornehmen Frankreich und dem
plebejischen England (197, 31-198, 2). Da dies offensichtlich dem Augenschein
des damaligen Kulturzustandes widersprach, bemüht sich JGB 254 um den
Nachweis, dass trotz dieses Augenscheins die französische Kultur „gut verbor-
gen“ (198, 7) gerade eine Hochblüte erlebe - dass dies im Verborgenen gesche-
hen soll, kann im Blick auf das bei N. oft zu findende elitäre Kulturbewusstsein
als Qualitätsmerkmal verstanden werden (vgl. Montinari 1987). Freilich er-
scheint selbst diese Hochkultur von Niedergangsverlangen und Weltvernei-
nungslust angekränkelt.
NL 1885, KSA 11, 38[5], 598-601 stellt eine ausführliche Vorarbeit dar, die
allerdings beim Personal stark variiert, Stendhal in den Mittelpunkt rückt und
beispielsweise Hippolyte Taine statt als Hegelianer als Stendhal-Schüler posi-
 
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