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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0742
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722 Jenseits von Gut und Böse

Räthsel nachzurathen, die ihn quälten und entzückten, diesen wunderlichen Epi-
cureer und Fragezeichen-Menschen, der Frankreichs letzter grosser Psycholog
war —] N. hegte eine besondere Vorliebe für Henri Beyle (1783-1842), der unter
dem Pseudonym Stendhal als Schriftsteller berühmt wurde (dazu ausführlich
NK KSA 6, 147, 12), nachdem er unter Napoleon militärische und politische
Ämter innegehabt hatte, die ihm nach der Restauration 1815 nicht mehr offen-
standen. Auch manche seiner Figuren - namentlich Julien Sorel, der Protago-
nist des Romans Le Rouge et le Noir (vgl. NK 217, 26) - sind (heimliche) Bona-
partisten. Stendhals Vie de Napoleon ist Fragment geblieben. In einem Briefent-
wurf an Hippolyte Taine wohl vom 20. 09.1886 schrieb N.: „Überdies sind Sie
einer der Entdecker Henri Beyles auch ich bin Einer gäbe es zwischen uns et-
was Gemeinsames: Ihre Liebe zu dem letzten großen Psychol(ogen) H(enri)
B(eyle)“ (KSB 7/KGB III/3, Nr. 753, S. 253, 23-26). Vgl. auch NK 57, 17-24.
199, 22 in voluptate psychologica] Lateinisch: „in psychologischer Lust“.
199, 33-200, 8 Es giebt noch einen dritten Anspruch auf Überlegenheit: im We-
sen der Franzosen ist eine halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und Sü-
dens gegeben, welche sie viele Dinge begreifen macht und andre Dinge thun
heisst, die ein Engländer nie begreifen wird; ihr dem Süden periodisch zugewand-
tes und abgewandtes Temperament, in dem von Zeit zu Zeit das provengalische
und ligurische Blut überschäumt, bewahrt sie vor dem schauerlichen nordischen
Grau in Grau und der sonnenlosen Begriffs-Gespensterei und Blutarmuth] In
KGW IX 2, N VII 2, 69, 12-24 wird dieser letzte Aspekt, der Frankreichs Überle-
genheit begründen soll, etwas anders gefasst: „drittens ein dem Süden zuge-
wandtes, wenn nicht rsogar'' verwandtes Temperament, dank einem reichli-
chen Zufluß von provencalischem Blute, so daß rwelches auf die Dauer'1 jenes
schauerliche deutsche Grau in Grau, die rjene'' Gespenster sonnenlose Be-
griffs=Gespensterei |u.J nicht aushält u. Blut=Armut nicht aushält: so s mäch-
tig auch rjene'' in diesem Jhd. rdie Nordische Verdüsterung Düsterkeit u,Götter-
dämmerung4 n der deutsche Norden über den Rhein hinüber seine Nebel gegrif-
fen hat u. greift.“ In dieser Fassung schließen Passagen über Schopenhauer
(vgl. NK 198, 20-28) und Wagner (vgl. NK 198, 28-32) an, die hier als Beispiele
des nordischen Ausgreifens gelten. In der Vorarbeit ist der Bezug zur Provence
und damit zu der N. faszinierenden Trobador-Kultur des Hochmittelalters (vgl.
z. B. NK KSA 6, 333, 26-334, 3) durch die Alleinstellung noch stärker betont,
während JGB 254 durch die Hinzunahme Liguriens allgemein die südliche Prä-
gung Frankreichs akzentuiert. Mit der kulturellen Differenz zwischen Norden
und Süden zu spielen, gehört lange schon zum kulturphilosophischen Stan-
dardrepertoire (bekannt geworden ist z. B. Karl Viktor von Bonstettens L’hom-
me du Midi et l’homme du Nord von 1824) - ein Spiel, das N. gerne fortsetzte
 
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