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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0762
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742 Jenseits von Gut und Böse

dagegen, dass er Bates’ Der Naturforscher am Amazonenstrom in Händen hielt,
als er JGB 258 niederschrieb - hat er aus der Erinnerung an eine frühere Lektü-
re Para zu Java verballhornt? Auch sonst fehlen Belege für N.s direkte Bekannt-
schaft mit Bates’ Werk. Zum Sipo Matador vgl. ferner Shapiro 2013, 82.
259.
JGB 259 gilt vielen Interpreten als exemplarisches Plädoyer für eine brachiale
Identifikation von Leben mit Gewaltsamkeit, Überwältigung, Aneignung. Le-
ben als Verletzung der Lebensinteressen anderer, ausgeflaggt mit der Signal-
formel „Wille zur Macht“ (208,1 u. 208, 4 f.) scheint den Kern einer Philosophie
in antizivilisatorischer Absicht auszumachen. Reproduziert diese Philosophie
nicht jene Praktiken, die JGB 257 den eroberungslustigen Barbarenhorden zu-
schreibt, auf dem Felde der Moral, der sozialen Kohäsion? Und will JGB 259
eine solche barbarische Philosophie in actu vorführen, insofern es dieser Ab-
schnitt auf die Überwältigung des Lesers abgesehen hat, augenscheinlich da-
rauf zählend, dass Gewaltsamkeit und Gefechtsinszenierung kritische Rückfra-
gen im Keime ersticken?
Die Ausgangslage ist jedenfalls ein Scharmützel gegen den herkömmlichen
Moralkonsens, der sich leicht auf die antiken Formulierungen der Goldenen
Regel (in der negativen Version nach Tobit 4,15 bzw. 4,16) zurückführen lässt,
und dessen Fortsetzung in der etwa von JGB 186 attackierten Nichtverletzungs-
moral Schopenhauers (vgl. NK 106, 24-107, 11) sowie in der Nichtausbeutungs-
moral Dührings (vgl. NK 208, 6-16) gipfelt. Mit einiger Sorgfalt inszeniert JGB
259 den für die Leser bei im Pulverdampf tränenden Augen leicht unsichtbar
werdenden Fehlschluss, wonach aus konsequenter Anwendung des Prinzips
der Selbstzurücknahme völlige Willensverneinung, „Wille zur Verneinung
des Lebens“ (207,19) folge. Schopenhauer mag seine Version der „laede-nemi-
nem-Moral“ (KSA 5,107, 10) mit der Willensverneinung systematisch verquickt
haben, aber ganz offensichtlich ist eine solche Verquickung nicht verallgemei-
nerbar, denn Nicht-Verletzung der Interessen anderer impliziert ja keineswegs
logisch zwingend, die eigenen Lebensinteressen gänzlich preiszugeben, son-
dern nur, partiell auf ihre rücksichtslose Durchsetzung zu verzichten. Diese
Selbstzurücknahme ist offensichtlich den eigenen Lebensinteressen oft genug
unmittelbar dienlich, weil sie verhindert, dass die Reaktion anderer auf das
eigene Durchsetzungsbestreben den eigenen Lebensinteressen zuwiderläuft.
Selbst wenn man der Sprecherinstanz probehalber zugesteht, dass „Leben
selbst [...] wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden“
(207, 22 f.) sei, folgt daraus doch nicht, dass jeder jederzeit um jeden Preis auf
„Aneignung“ etc. aus sein kann oder soll. Um seine Optionen zu bewahren,
 
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